TRisiko HIV nach Messerangriff? „Sofort in eine Notaufnahme begeben“

Im Kampf gegen Angst und Ansteckung: Infektiologin Dr. Birthe Steiner berät in Bremerhaven zur HIV-Prophylaxe – auch nach der Messerattacke in Hamburg (Szene gestellt). Foto: Polgesek
Nach der Messerattacke in Hamburg haben die 18 Verletzten nicht nur körperliche und psychische Verletzungen erlitten. Müssen die Opfer jetzt auch um eine Infektion mit HIV bangen?
Bremerhaven. Die Bremerhavener Hausärztin und Infektiologin Dr. Birthe Steiner hat nach der Messerattacke in Hamburg ein Opfer behandelt. Müssen sich die Betroffenen Sorgen machen, dass sie sich mit HIV oder Hepatitis angesteckt haben?
Wie hoch ist das Infektionsrisiko bei Messerangriffen? Schließlich kommen mehrere Opfer mit dem Messer in Berührung.
Bei Messerstichen ist die Gefahr nicht sehr hoch. Trotzdem gibt es potenziell immer ein Risiko, dass man sich mit Erkrankungen wie HIV, Hepatitis B oder C anstecken kann. Sie sind über Blut übertragbar. Das Infektionsrisiko wird in der Bevölkerung aber überbewertet.
Nach Attacke
Forderungen nach Konsequenzen aus Messerangriff
Erfahrungsberichte belegen, dass das Risiko für eine HIV-Infektion beim Messerstich ungefähr bei 0,5 Prozent liegt. Das ist sehr gering. Mit etwa 30 Prozent ist das Risiko für eine Hepatitis-B-Infektion deutlich höher. Voraussetzung ist natürlich, dass jemand die Erkrankung überhaupt hat und diese Person zuvor mit demselben Messer verletzt wurde.
Was raten Sie Patienten, die Opfer eines Messerangriffs wurden?
Es ist ganz wichtig, sich nach einer Verletzung sofort in eine Notaufnahme zu begeben. Denn es geht um den zeitlichen Faktor. Die Opfer sollten innerhalb von ein bis zwei Stunden nach der Tat von einem Arzt untersucht werden, der das Risiko zur Übertragung einer Infektionskrankheit richtig einschätzen kann.
In der Regel ist man im Krankenhaus dafür am besten aufgehoben. Dort gibt es eine hohe Expertise im Umgang mit derartigen Verletzungen. Man muss allerdings schnell handeln.
Was kann man tun?
Um das Risiko für eine HIV-Infektion zu senken, kann man eine Postexpositionsprophylaxe geben. Das ist eine Dreierkombination an Wirkstoffen, die in Tablettenform eingenommen wird.
Der Patient muss mit der Einnahme am besten innerhalb der ersten 24 Stunden nach der potenziellen Infektion beginnen, am besten sogar zwei bis vier Stunden nach der Verletzung schon im Krankenhaus. Dann wirken diese Medikamente am besten und können das HIV-Infektionsrisiko um 50 Prozent reduzieren.
Die Tabletten müssen dann über die Dauer von 28 Tagen eingenommen werden. Falls sich HI-Viren im Blut der betroffenen Person befinden, tötet das Medikament diese ab und verhindert, dass sich die Infektion im Körper manifestiert. In aller Regel ist das eine sehr gut verträgliche Behandlung, aber es können etwa Magen-Darm-Probleme auftreten.
Gibt es eine Prophylaxe auch im Fall einer Hepatitis-Infektion?
Tabletten kann man nur gegen HIV einnehmen. Gegen die Hepatitis-B-Infektion, eine virale Entzündung der Leber, kann man aber auch nach einer Infektion noch impfen, um einen Schutz zu gewährleisten. Entscheidend ist, zeitnah nach einer Verletzung damit zu beginnen.
Im Fall der speziellen Leberentzündung Hepatitis C gibt es leider noch keine Impfung. Man muss daher drei bis sechs Monate abwarten, ob sich derjenige wirklich infiziert hat. Dann lässt sich Hepatitis C aber mittlerweile mit gut verträglichen Medikamenten behandeln. Die Heilungschancen liegen bei deutlich mehr als 90 Prozent.
Wie lange muss man nach einer möglichen HIV-Infektion bangen?
Der Bluttest ist sechs Wochen nach einer Infektion aussagekräftig. Das gilt allerdings nur, wenn man keine Postexpositionsprophylaxe bekommt. Wenn man diese Medikamente einnimmt, kann man erst sechs Wochen nach der letzten Tabletteneinnahme einen aussagekräftigen Test machen.
Werden die Opfer nach derartigen Vorfällen getestet? Dann wüsste man ja direkt mehr über mögliche Infektionsrisiken.
Ja, also normalerweise ist es Routine, dass alle Verletzten polizeilich erfasst und medizinisch untersucht werden. Es wird bei jedem Blut abgenommen und auch kontrolliert, ob bei jemandem eine HIV- oder Hepatitis-Infektion nachweisbar ist. In der Regel passiert das in den Krankenhäusern.
Ich denke, die Schwierigkeit liegt darin, nach einer akuten Messerattacke mit mehreren Verletzten diese ganzen Informationen zusammenzuführen, um sagen zu können: Alle Opfer und auch der Täter sind HIV-negativ. Das würde natürlich im Umkehrschluss bedeuten, dass keine Prophylaxe notwendig wäre. Aber in akuten Lagen ist das häufig schwierig umzusetzen – nicht nur aus logistischen Gründen, sondern auch mit Blick auf den Datenschutz.
Haben Sie nach der Messerattacke in Hamburg Patienten behandelt? Einige Opfer kamen aus Bremen und Niedersachsen.
Es gab ein Person hier aus der Gegend, die zu mir kam und bei der Messerattacke verletzt worden war. Die Verletzung war im Universitätsklinikum in Hamburg erstversorgt worden. Außerdem war dort bereits mit der HIV-Prophylaxe begonnen worden.
Das ist Standard, weil mit den Tabletten sehr schnell begonnen werden muss. So schnell liegen gar nicht die Blutergebnisse von allen anderen Opfern vor. Es bedeutet nicht, dass es Infizierte gab.
Von mir benötigte die Person ein Rezept für die Tabletten. In der Klinik bekommt man zunächst nur Medikamente für wenige Tage mit. Die Weiterbehandlung muss beim Infektiologen stattfinden. Hausärzte haben dafür kein Budget.
Es wäre natürlich toll, die Verletzten nach Auswertung aller Blutergebnisse anzurufen und im besten Fall Entwarnung zu geben. Aber ich habe es noch nie erlebt, dass das stattfindet, vermutlich weil es logistisch und rechtlich schwierig ist.
Wie geht es Patienten nach solch einem Messerangriff?
Es besteht eine extreme Verunsicherung. Verletzte haben Angst vor einer HIV-Infektion. Alle wissen, dass die halt nicht heilbar ist und es bedeuten würde, dass man lebenslang Tabletten einnehmen muss. Als Behandler kann man diese Angst zwar nicht komplett nehmen, aber ich versuche zu beruhigen, indem ich auf das sehr geringe Infektionsrisiko hinweise.
In Deutschland gibt es nicht sehr viele Menschen mit einer unbehandelten HIV-Infektion. Eine Ansteckung ist nur möglich, wenn jemand noch Virus im Blut hat. Das ist nur der Fall, wenn jemand unbehandelt ist. Trotz des geringen Risikos weise ich die Patienten darauf hin, dass sie vorerst im Alltag gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen, wie Kondome zu benutzen.
Wie geht es Opfern psychisch?
Sie haben posttraumatische Belastungsreaktionen im Sinne von Schlafstörungen. Es kann sein, dass sie sehr nah am Wasser gebaut sind, wenn sie über das Erlebte sprechen. Möglich sind Flashbacks, also, dass sie die traumatisierende Situation plötzlich noch einmal erleben.
Wir Ärzte müssen aufpassen, dass wir nicht zu tief bohren. Für eine Behandlung dieser psychischen Probleme sind Psychologen die Spezialisten. Generell gilt: Wer jemanden kennt, der ein solches Trauma erlebt hat, sollte niemanden drängen, darüber zu sprechen. Wenn das Opfer von sich aus sprechen möchte, sollte man zugewandt zuhören.
Niedersächsische Städtetag fordert Konsequenzen
Nach der Messerattacke in Hamburg durch die psychisch kranke mutmaßliche Täterin hat der Niedersächsische Städtetag ein ressortübergreifendes Gesamtkonzept von Sozial-, Innen- und Justizministerium gefordert.„Unter anderem geht es uns darum, die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach dem Niedersächsischen Psychisch-Kranken-Gesetz abzusenken“, sagt Hauptgeschäftsführer Jan Arning.
„Derzeit ist eine Unterbringung und ein Festhalten in der Unterbringung nur möglich, wenn von der psychisch kranken Person eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für sich oder andere ausgeht und diese Gefahr nicht auf andere Weise als durch Unterbringung abgewendet werden kann. Diese Schwelle ist, das zeigen auch einige Fälle aus der kommunalen Praxis in Niedersachsen, zu hoch.“
„Müssen feststellen, dass Polizei und kommunale Behörden nicht immer vor einer Entlassung informiert werden“
„Weiterhin müssen Personen, die aus der Unterbringung entlassen werden, im Rahmen der Möglichkeiten und Kapazitäten von Polizei und sozialpsychiatrischem Dienst begleitet und überwacht werden – insbesondere wenn sie Straftaten gegen die körperliche und sexuelle Unversehrtheit begangen haben“, sagt Arning.
„Das gilt auch für obdachlose Menschen. In der Praxis müssen wir aber leider feststellen, dass die Polizei und die kommunalen Behörden nicht immer vor einer Entlassung informiert werden. Gerade bei den vorgenannten Personen wäre das wichtig. Eins ist aber auch klar: Das Recht auf Freiheit der psychisch Kranken ist ein hohes Gut, und vollständige Sicherheit wird es nicht geben.“