TSchläge und Tumulte: Gewalt im Jugendfußball nimmt zu - Verband schlägt Alarm

Mit dieser Kampagne sensibilisiert der Fußballkreis Vechta in Sachen Gewalt auf dem Fußballplatz. Foto: Thomas Wilkens
„Du Wichser!“ Marvin Hauschild hört diese Beschimpfung häufiger. Spieler, Zuschauer oder Trainer schalten auf dem Fußballplatz ihr Gehirn aus. Funktionäre aus dem Kreis Stade haben Alarm geschlagen. Die Gewalt, vor allem im Jugendfußball, nimmt zu.
Stade. Marvin Hauschild ist Fußball-Schiedsrichter aus dem Kreis Stade. Er hat Erfahrung, pfeift schon länger. Er steckt solche Beleidigungen weg. Aber junge Schiedsrichter schmissen vereinzelt aufgrund solcher Anfeindungen, wegen Kritik, permanenten Reklamierens oder Meckerns die Brocken hin. Dezidierte Zahlen dazu gibt es nicht. Aktuell pfeifen 200 Unparteiische im Landkreis Stade.
„Schiri, schau doch mal genauer hin“, gilt als die harmlose Form von Kritik. „Komm du mal gut nach Hause“, könnte ein Schiedsrichter schon als Ankündigung von Gewalt verstehen. „So etwas hören junge und ältere Schiedsrichter gleichermaßen“, sagt Hauschild. Von allen Altersgruppen. „Freundlichkeit und den Umgang mit Regeln schalten einige auf dem Platz aus“, sagt Hauschild.

Marvin Hauschild: „Freundlichkeit und den Umgang mit Regeln schalten einige auf dem Platz aus.“ Foto: Struwe (nomo)
Hauschild und seine Schiedsrichterkollegen erleben diese Dinge an der Basis. Samstags und sonntags auf dem Fußballplatz. Bei den Funktionären des Niedersächsischen Fußballverbandes (NFV) im Kreis Stade landen nur die Härtefälle. Im TAGEBLATT-Gespräch berichten der Vorsitzende des Kreisjugendausschusses, Frank von Bargen, der Vorsitzende des Sportgerichtes, Roland Aue, und der Spielausschussvorsitzende Michael Koch von alarmierenden Tendenzen allein im Kreisfußball. „Wir haben einen Trend zur Gewaltbereitschaft“, sagt Aue.
Konkrete Fälle im Landkreis Stade
Bei der Hallenkreismeisterschaft der B-Junioren stürmen im vergangenen Jahr geschätzt 50 Menschen den Platz. Ursprung ist ein Clinch zwischen zwei Spielern. Als „tumultartig“ beschreiben die Funktionäre das Geschehen. Es wird geschubst und geschlagen. Es gibt Videos davon.
Einige Monate später: wieder B-Jugend. Der Schiedsrichter will zwei Spielern die Rote Karte zeigen. Auswechselspieler, Betreuer und Trainer springen von den Bänken auf und wollen den Unparteiischen daran hindern. „Die Aggressionen haben zugenommen. Dabei ging es sportlich um nichts“, sagt von Bargen.

Frank von Bargen: „Die Aggressionen haben zugenommen.“ Foto: Berlin
Bei einem Ligaspiel der U17 gibt es nach Abpfiff Prügel im Kabinengang. Nicht nur die beiden Mannschaften rangeln untereinander. Spieler und Fans eines unbeteiligten Teams, die extra angereist waren, mischen kräftig mit. Der Schiedsrichter steht massiv unter Druck.
Nach einem B-Jugendspiel wird der Schiedsrichter via Instagram massivst beleidigt. Das sind die härtesten Fälle, von denen die Funktionäre berichten. Die Namen der beteiligten Vereine liegen dem TAGEBLATT vor.
Mit 15 verlagert sich Aggression aufs Spielfeld
Kreisjugendchef von Bargen hat beobachtet, dass der Trend zur höheren Gewaltbereitschaft bereits in der D-Jugend beginnt. Sei es verbal oder körperlich. In diesem Alter seien häufig Trainer, die ihre Spieler aufheizen, die Auslöser. Oder Zuschauer. Oder Eltern. Selten die Spieler selbst. Wenn die Spieler 15, 16 Jahre alt werden, verlagere sich die Aggression immer weiter auf das Spielfeld.

Roland Aue: „Wir haben einen Trend zur Gewaltbereitschaft.“ Foto: Berlin
In den Jahren 2018 bis 2021 landeten 15 Härtefälle beim Sportgericht des Kreises Stade. Neun aus dem Herren-, sechs aus dem Jugendfußball. Von 2021 bis heute musste Roland Aue 33 Fälle bearbeiten, 23 bei den Erwachsenen, 10 im Jugendfußball. Und die Saison ist noch nicht vorbei. Bei mehreren Tausend Spielen pro Jahr liegen die Zahlen im Promillebereich. Aber Aue und das Sportgericht behandeln eben nur die Spitze des Eisbergs. Alltägliche Delikte werden auf niedrigeren Ebenen geahndet. Der NFV ist besorgt und will sensibilisieren. Beim Jugendfußball behandelt das Gericht oft Fälle, in denen Gruppen beteiligt sind. Bei den Männern geht es „nahezu um Einzeltäter“, sagt Michael Koch. Im Frauenfußball gibt es keine ernsthaften Vorkommnisse.

Michael Koch: „Bei den Männern sind es vor allem Einzeltäter.“ Foto: Berlin
Roland Aue und das Sportgericht belegen die heftigsten Fälle im Jugendfußball mit vier oder fünf Spielen Sperre. Beteiligte Erwachsene müssen auch schon mal eine Geldstrafe in Höhe von 150 Euro zahlen. Wegen fehlender Ordner berappen Vereine 50 Euro Strafe. Ob das reicht, um die Ursachen zu bekämpfen, ist fraglich.
Hauptgrund für Gewalt: Fehlender Respekt
„Der Respekt vor den Trainern und dem Gegenspieler oder Autoritäten wie dem Schiedsrichter oder dem Sportgericht fehlt“, sagt Aue. Unverbesserliche habe er in Verhandlungen erlebt. „Der Umgang ist deutlich verroht“, sagt Aue. Die NFV-Funktionäre nennen als Gründe schlichtweg schlechte Erziehung und im Allgemeinen die gesellschaftliche Entwicklung, außerdem überforderte und schlecht oder gar nicht ausgebildete Trainer und Profis in der Fußball-Bundesliga, die oftmals nicht als Vorbild taugten.
Im vergangenen Jahr hatte der Jugendleiter des BW Langförden, Thomas Wilkens, im Fußballkreis Vechta eine ähnliche Entwicklung ausgemacht und schließlich im September eine beeindruckende Kampagne gestartet. Das Projekt www.herzschlag.jetzt zeigt durch Schläge gezeichnete Fußballer und Fußballerinnen. Die Bilder sind bearbeitet, sollen aber die Kernbotschaft verbreiten: „Hier schlägt nur dein Herz!“ Und nicht die Faust. Ob die Kampagne den Trend stoppt, kann Wilkens heute nicht evaluieren. Aber die positive Resonanz sei enorm, sagt er.
Marvin Schories hätte es lieber, wenn es seinen Posten nicht gäbe. Schories arbeitet seit Oktober 2022 als ehrenamtlicher Konfliktlotse. Andere Landesverbände hatten auf die Zunahme von Gewalt reagiert und Konfliktlotsen als Schlichter, Vermittler und Mediatoren eingesetzt. Niedersachsen adaptierte das Projekt. „Wenn die Auftragslage gering ist, ist das ein gutes Zeichen“, sagt Schories.
NFV setzt Konfliktlotsen ein
Eine „quantitative Zunahme“ der Vorfälle verzeichnet Schories seit den Corona-Zeiten. „Immens durch die Decke gehen die Zahlen allerdings nicht“, sagt er. In der Gesellschaft habe sich ein neues Bewusstsein etabliert. „Was früher als Dummer-Jungen-Streich abgetan wurde, ist heute Mobbing und das lässt sich eins zu eins auch auf den Fußball übertragen“, sagt Schories.
Schories arbeitet hauptberuflich als Polizist in der Jugendsachbearbeitung. Er ist Schiedsrichterobmann im Landkreis Harburg und kickt gelegentlich beim Buchholzer FC. Seine Dienste als Konfliktlotse sind dann gefragt, wenn ein Sportgericht einem Verein ein Gespräch mit ihm verordnet, wenn Vereine oder Betroffene selbst auf ihn zukommen oder wenn ein Schiedsrichter nach einem konfliktträchtigen Spiel einen Sonderbericht verfasst hat.

Marvin Schories; „Immens durch die Decke gehen die Zahlen allerdings nicht.“ Foto: Privat (nomo)
Nachdem zwei Mannschaften und Fans und Spieler eines dritten Vereins im Kreis Stade aufeinander losgingen, hatte Schories viel zu tun. Mit einem Team führte er ein „konstruktives Gespräch“. Bei einem zweiten habe eine Einzelperson immens gestört. Schories Taktik: Erst mal alle erzählen lassen. Es gibt einen Sachverhalt und mehrere Versionen. Schories fragt in die Runde: Warum übt ihr diesen Sport aus? Was glaubt ihr, warum die anderen es tun? Warum kommt es zu Gewalt? Und wie kommt ihr auf die Idee, dass Gewalt helfen würde?
Die Antworten sind in der Regel dieselben. „Viele erklären es mit ihren Emotionen“, sagt Schories. Mit der Gruppendynamik, mit verletztem Stolz, mit genereller Unzufriedenheit. Oft sei der Ausbruch der Gewalt nicht erklärbar. Schories setzt auf den Lerneffekt in solchen Gesprächen. Und letztendlich auf eine geringer werdende Auftragslage.