TSchleuserprozess: Hauptverhandlung muss von vorn beginnen

Vor dem Stader Landgericht muss die Hauptverhandlung gegen eine mutmaßliche Schleuserbande von vorn beginnen. Foto: Christian Hager/dpa
Der Prozess beginnt wieder von vorn: Wegen Erkrankung einer Schöffin wird das Verfahren gegen eine Schleuserbande neu aufgerollt. Der erste Verhandlungstag endete so emotional, dass ein Rettungswagen gerufen wurde.
Stade. Gut besucht waren am Freitagvormittag die Zuschauerreihen im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Stade. Es gab einen zweiten Anlauf für das Verfahren gegen eine Schleuserbande.
Die Verwandtschaft des mitangeklagten Ehepaares - 43 und 51 Jahre alt - hatte möglicherweise die Sommerferien genutzt und war mit einem guten Dutzend Kinder aus Nordrhein-Westfalen angereist. Sie alle wollten Oma und Opa sehen, durch die schusssichere Glasscheibe, die die Zuhörer vom eigentlichen Verfahren trennt.
Rückblick: Ende September 2023 war die mutmaßliche Schleuserbande aufgeflogen. Bei bundesweiten Hausdurchsuchungen waren fünf Menschen festgenommen worden, drei davon im Altländer Viertel in Stade, zwei in NRW. Am 11. Juni startete zum ersten Mal der Prozess gegen drei Frauen und zwei Männer vor dem Landgericht Stade. Angesetzt für den Mammut-Prozess waren 50 Prozesstage.
Verfahren gegen 24-Jährige inzwischen abgekoppelt
Richtig vorangekommen war die Hauptverhandlung vor der 4. Großen Strafkammer im ersten Anlauf nicht. Die 24-jährige Tochter der Hauptangeklagten störte durch dauerhaftes Reden und unkontrollierbare Ausbrüche.
Immer wieder musste die Verhandlung unterbrochen werden. Zweimal wurde sie begutachtet und schließlich Ende Juli für derzeit verhandlungsunfähig erklärt.
Ihr Verfahren wurde abgekoppelt und bis zur Genesung unterbrochen. Dem Vernehmen nach befindet sie sich in psychiatrischer Behandlung. Es hätte also deutlich ruhiger weitergehen können.

Dieses Foto entstand beim ursprünglichen Prozessauftakt im Juni: Justizmitarbeiter führten die Hauptangeklagte in den Schwurgerichtssaal. Foto: Helfferich (Archiv)
Doch es tat sich ein neues Problem auf: Eine der beiden Schöffen erkrankte. Da die gesamte Kammer mit drei Berufs- und zwei Laienrichtern von Anklageverlesung bis Urteilsspruch durchgängig anwesend sein muss, geht es nun von vorne los - mit neuer Schöffin und vorsorglich mit einem dritten, zusätzlichen Ergänzungsschöffen, der über die gesamte Verhandlung anwesend ist und im Krankheitsfall einspringen kann.
Zurück auf Anfang im Schwurgerichtssaal
Zum zweiten Mal verlas Oberstaatsanwalt Kai Thomas Breas nun am Freitag die Anklage. Den fünf Beschuldigten wird vorgeworfen, sich zu einer Bande zusammengetan und zwischen März 2021 und September 2023 illegal und gegen Bezahlung Menschen auf unterschiedlichen Wegen nach Deutschland eingeschleust zu haben.
Dabei sollen sie immer wieder dieselben Ausweispapiere verwendet haben, teilweise manipuliert. Auf 37 Fälle kommt die Anklage. Insgesamt soll die mutmaßliche Bande mehr als 300.000 Euro dabei eingestrichen, außerdem Goldschmuck und ein Grundstück in Syrien überschrieben bekommen haben.
Der mutmaßlichen Bandenchefin (49) werden 28 Taten zugerechnet, deren 28-jährigem Sohn fünf, dem mitangeklagten 51-Jährigen ebenfalls fünf und dessen 43 Jahre alter Frau vier Straftaten, jeweils „gemeinschaftlich handelnd“ so Breas. Die fünfte Angeklagte ist die Frau, deren Verfahren abgekoppelt ist.
Einen Versuch der Verständigung (nach § 257c StPO) hat es im ersten Anlauf auch gegeben. Die Vorsitzende Richterin Reinecker berichtete, dass die Hauptangeklagte mit einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb bis sechseinhalb Jahren, ihr 28-jähriger Sohn von zweieinhalb bis dreieinhalb Jahren, ebenso das mitangeklagte Ehepaar rechnen müssten.
Das sei inakzeptabel für alle Angeklagten, so die Verteidiger, die auch mitteilten, dass sich keiner der Mandanten äußern wolle.
Verteidiger berichtete von Suizidversuch in der JVA
Bevor dieser erste Verhandlungstag im zweiten Anlauf endete, meldete sich Verteidiger Ismail Cengiz aus Bremen zu Wort. Der Gesundheitszustand seines Mandanten sei bedenklich. Der 51-Jährige leide unter Atemnot, habe 30 Kilogramm abgenommen, und ein für ihn medizinisch erforderliches Gerät habe die JVA wieder zurückgeschickt, berichtete er.
Schleuserprozess
T Neues Gutachten: 24-jährige Angeklagte ist nicht verhandlungsfähig
Der Stader Anwalt Rainer Mertins erklärte, dass seine Mandantin, die Hauptangeklagte, bereits mehrere Suizidversuche unternommen habe; zuletzt vor wenigen Tagen in der Justizvollzugsanstalt. Sie sei traumatisiert von Erfahrungen in Syrien, wo sie in einem Gefängnis des IS inhaftiert gewesen sei.
„Sie musste miterleben, wie Leute enthauptet wurden“, so Mertins. Sie sollte daher dringend von einem Facharzt untersucht werden.
Dieter Kaufmann aus Dortmund, gemeinsam mit der Staderin Katrin Bartels Verteidiger der 43-jährigen Angeklagten, erklärte mit Blick auf seine Mandantin: „Im Grunde haben wir hier drei Angeklagte, deren Haftfähigkeit untersucht werden müsste.“
Am Ende fließen Tränen
Die Vorsitzende Richterin Reinecker war überrascht von den Schilderungen Mertins. Von einem aktuellen Suizidversuch in der Justizvollzugsanstalt habe sie nichts gehört, wolle aber nachfragen. Schließlich beendete sie diesen ersten Verhandlungstag.
Nach dem Ende drängten sich Töchter und Enkel wieder an die Glasscheibe. Tränen flossen, gingen über in lautes Klagen und sich steigerndes Geschrei, das Prozessbeobachter im Hinausgehen begleitete. Kurz darauf hielt ein Rettungswagen vor dem Gerichtsgebäude.
Nach Information der Pressesprecherin des Landgerichts hatte eine der Frauen Kreislaufprobleme. Mit Unterstützung der Sanitäter habe sie auf eigenen Füßen das Gebäude verlassen können. Der Prozess wird am 27. August fortgesetzt.