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Armut

TSparen, planen, rechnen - eine Familie im Überlebenskampf

Bierdeckel mit dem Aufdruck „Armut eine Stimme geben“ liegen nach der Pressekonferenz zur Beauftragung des erstern Armutsbeauftragten der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) auf einem Tisch (gezoomte Aufnahme). Die Deckel werden in Gaststätten verteilt und sollen auf das Problem Armut aufmerksam machen. (zu dpa: «Jeder Fünfte von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht») +++ dpa-Bildfunk +++

In Deutschland waren im Jahr 2023 gut 17,7 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das waren 21,2 Prozent der Bevölkerung, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Foto: Soeren Stache

Die Zahl derer steigt, die in Deutschland in Armut leben. Ebenso die derer, die in Armut abzurutschen drohen. Familie Brecht - zwei Erwachsene, zwei Kinder - steht an der Schwelle. Die Eltern beschreiben ihre Lebensumstände.

Von Thorsten Kratzmann Montag, 06.05.2024, 09:50 Uhr

Zeven. Unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben, stimmen die Eheleute einem Gespräch zu. Dennis und Jasmin Brecht hatten einige Nackenschläge einzustecken. Es sind die Umstände, die ihnen zusetzen.

Dennis, Mitte 30, hat keine Arbeit mehr. Eine fortschreitende Autoimmunkrankheit hat ihn den Job gekostet. Seine drei Jahre ältere Frau ist ohne Ausbildung und Anstellung. Beider Sohn steht am Anfang seiner Schullaufbahn. Die Tochter, die Jasmin mit in die Ehe gebracht hat, ist schon weiter.

Kampf gegen Bürokratie

Seit ihm chronische Schmerzen körperliche Arbeit unmöglich machen, steht Dennis im „Papierwald“, wie er es nennt. Behördengänge, Anträge, Zuständigkeiten kosten die Eheleute Nerven und Kraft. Vor etwa einem dreiviertel Jahr begann der Kampf mit der Bürokratie. Den hatte Jasmin vor etwa 15 Jahren als Alleinerziehende schon einmal ausgefochten.

Erst nach ungezählten schlaflosen Nächten, Phasen lähmender Angst, der Hilfe eines kundigen Sozialarbeiters und anwaltlichen Beistands hatte ein Richter den Kampf zu ihren Gunsten entschieden. Die Erinnerung daran und die Gefühle kamen wieder hoch, als Dennis die Kündigung nach Hause brachte.

Zuständigkeiten und Anträge

Die erste Anlaufstelle nach dem Jobverlust war die Agentur für Arbeit. Dennis meldete sich arbeitslos und bekundete Interesse an einer Umschulung. „Ich kann ja arbeiten, nur nicht mehr körperlich“, bekräftigt Dennis. Doch der zuständige Betreuer lehnte das Ansinnen ab. Und überhaupt: Die Agentur ist gar nicht zuständig. Dennis möge sich an die Krankenkasse wenden.

Dort wies man ihn nach Erledigung des Papierkrams nicht ab. Doch bis das Krankengeld auf dem Konto war, mussten die Eheleute Bekannte anpumpen. Von der Krankenkasse wechselte die Zuständigkeit später zur Arbeitsagentur. Wieder kam das Thema Umschulung auf den Tisch. Und wieder lautete die Antwort Nein.

Der Berater hielt vielmehr eine Reha für angezeigt. Dann ist die Rentenversicherung zuständig. Hin und her, vor und zurück ging es. Mal spürte Dennis Frustration, mal Aggression. Jasmin spricht von „Existenzängsten“.

Ein Paar mit einem Kind steht auf einer Zwei-Euro-Münze, die auf Geldscheinen liegt.

Familien, die mit Unterstützung so eben über die Runden kommen, sind in Deutschland gleichwohl von sozialer Ausgrenzung bedroht. Foto: Andreas Gebert

Hoffnung durch Sozial- und Berufsberatung

Unterstützung kam von dritter Seite. Und heute keimt das Pflänzchen Hoffnung. Für den Silberstreif am Horizont hat die Sozial- und Berufsberatung des Jobcenters gesorgt. Die noch vage Aussicht auf eine Ausbildung macht Dennis Mut. Als sogenanntem Aufstocker eröffnet sich ihm während der Lehrzeit die finanzielle Perspektive „Bürgergeld“.

Sparen, planen, rechnen

Derweil heißt es zu sparen, zu planen, zu rechnen. Die Eltern üben sich in Verzicht. „Für die Kinder“, sagt Jasmin. Großeltern, die helfen könnten, gibt es nicht. Nach Abzug von Miete und Wohnnebenkosten bleiben Familie Brecht 1700 Euro im Monat. Anschaffungen, die ins Geld gehen, lassen sich damit nicht stemmen.

Angebote, Tafel und Second-Hand

Beim Wocheneinkauf landen ausschließlich Angebote im Wagen. Obst und Gemüse gibt‘s bei der Tafel. Kleidung auch mal im Second-Hand-Laden. Im Mobiltelefon steckt eine Prepaid-Karte. Ist das Konto leer und der Monat noch nicht rum, fließt das Trinken aus dem Wasserhahn und das Handy bleibt stumm.

Das alte Auto vor der Tür abzuschaffen, ist keine Option, schließlich muss Dennis regelmäßig auswärts zum Doktor und die Praxis des Kinderarztes liegt 25 Kilometer entfernt.

Kauf von Geschenken: Über das Jahr verteilt

Ist Weihnachten vorbei, plant Jasmin für den nächsten Heiligabend. „Geschenke kaufen wir nach und nach, das ganze Jahr über.“ Mancher Wunsch von Tochter und Sohn bleibt indes unerfüllt. „Wir haben unsere Kinder erzogen, dankbar zu sein, aber mit dem Alter wachsen die Ansprüche“, sagt Jasmin.

Und so bleibt der Rollerführerschein der Tochter Traum. „Das können wir nicht bezahlen“, stellt die Mutter fest. Ebenso wenig die Ballettschule und den Schwimmkurs.

Gebrauchte Haushaltsgeräte bei eBay

Dennis Brecht unterstreicht diese Aussage mit dem Hinweis darauf, dass es einem finanziellen Genickbruch gleichkomme, wenn eines der Haushaltsgeräte den Geist aufgibt. Für den Trockner, der jüngst seinen Dienst quittierte, habe er bei eBay für 50 Euro einen 15 Jahre alten Nachfolger erstanden - verbunden mit der Hoffnung, „dass der noch einige Zeit hält“.

Urlaub und Ausflüge

An Urlaub ist angesichts dessen schon gar nicht zu denken. Eine Woche Sommerfrische an der Küste. Das liegt vier Jahre zurück. Die Schulferien versüßen die Eltern den Kindern mit dem einen oder anderen Tagesausflug. Verpflegung nehmen die Brechts von zu Hause mit. „Ein Eis im Café ist schon schwierig“, ergänzt Jasmin.

Kindergeburtstage und Vereinssport

Der jüngste Kinobesuch des Quartetts datiert aus dem Sommer 2023. „Als ich noch Arbeit hatte, war es leichter, mal Ja zu sagen“, ergänzt Dennis. Und so sparen er und seine Frau auf die beiden Kindergeburtstage. Vier bis fünf Freunde dürfen Tochter und Sohn nach Hause einladen.

Speis und Trank besorgen die Eltern über mehrere Wocheneinkäufe verteilt. Dass die beiden Kinder im Verein sportlichen Hobbys nachgehen können, ist dem Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung zu verdanken. 15 Euro pro Kind und Monat beträgt das Budget seit Anfang dieses Jahres. „Das ist toll“, loben die Eltern.

Schulbedarf und Anträge

Knapp bemessen ist ihnen hingegen die Leistung für den persönlichen Schulbedarf der Kinder. Der beläuft sich nach der Anhebung mit Jahresbeginn auf 130 Euro für das erste Schulhalbjahr und 65 Euro für das zweite Schulhalbjahr. „Das reicht nicht“, urteilt Dennis Brecht und verweist auf teure Fachbücher für die Tochter und „einen Tuschkasten mit Goldrand“, den die Schule vorschreibe, für den Sohn.

Nicht zu vergessen, dass auch diese Leistung nur auf Antrag gewährt wird. Jasmin und Dennis Brecht werden noch lange im „Papierwald“ stehen und etliche Anträge auszufüllen haben - schließlich besucht Sohnemann die erste Klasse und sein Vater hofft darauf, eine Ausbildung beginnen zu können. IT-System-Elektroniker, das wäre was.

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