TStader Original: Jens Waldvogel und sein Geschäft mit Glückszahlen und Geschichten

Jens Waldvogel führt seinen Laden in der Großen Schmiedestraße freundlich und bestimmt. Foto: Klempow
Das Haus ist typisch für die Stadt. Uralt, schlicht und schön. Zurzeit ist es eingepackt, weil die Fassade saniert wird. Typisch Stade ist auch der Laden hinter der Fassade. Bei Jens Waldvogel geht es um Glückszahlen, Tabak und Nachrichten.
Stade. Über den Schaufenstern prangt in handgemalten Lettern der Schriftzug „Staatl. Nordwestdeutsche Klassenlotterie“. Auch der soll restauriert werden. Ein Tritt aus Terrazzo führt zur Ladentür in der Großen Schmiedestraße.
Durch zwei Schaufenster fällt Licht, der Verkaufsraum ist so breit wie das Erdgeschoss, schmal und langgezogen. Rechts sind die Zeitschriften im Regal meterlang aufgefächert, zehn Reihen übereinander. Gegenüber steht der Verkaufstresen mit der gelb leuchtenden Lottoannahmestelle. An der Wand dahinter das Sortiment mit Zigaretten, Tabakdosen, Filtern und Blättchen.
Laden-Möbel mit dem Charme der 80er Jahre
Das Laden-Mobiliar ist aus einem Guss, ein nostalgisches Mahagoni-Furnier mit dem Charme der 80er Jahre und Kantenschutz aus Messing. „Das ist die Brinkmann 2000“, sagt Jens Waldvogel. Der Inhaber steht hinter dem kurzen Tresen für die Paketannahme und schaut auf die Ladeneinrichtung. Er grinst breit. „Die bleibt, solange ich hier bin.“

Die Ladeneinrichtung mit dem Charme der 80er Jahre hat einen Namen: Das Modell heißt Brinkmann 2000. Foto: Klempow
Das Modell Brinkmann 2000 stellte vor Jahrzehnten die BAT, die British American Tobacco, für den Tabakwaren-Laden. Es war schon da, bevor Lotto in Niedersachsen 1995 auf online umstellte. Damals mussten Lüftungsschlitze für die Computer in die Tresen gebaut werden. Seither hat sich kaum etwas geändert. Oder doch - eine Taschenablage hat Waldvogel schon ersetzt. Das Furnier war so blank wie eines der vielen eingelösten Rubbellose, die hier über den Tresen wandern.
„Das ist hier wie auf dem Dorf“
Durch die Ladentür tritt Maurizio Caracci vom Eiscafé ein paar Meter die Straße hoch. Er hält eine Tasse Kaffee in der Hand, stellt sie für Waldvogel auf den Tresen, lächelt und ist fast schon wieder weg. „Das macht er jeden Morgen“, sagt Waldvogel. Er weiß das gute Miteinander sichtlich zu schätzen: „Das ist hier wie auf dem Dorf.“ Das gilt nicht nur für die Geschäftsleute. Er kennt auch seine Klientel, sieht den Kunden hereinkommen, grüßt und fragt nur „Mit ohne?“ und erhält ein „Ja, bitte“ als Antwort. Filterlose also. Man kennt sich.

Die Kunden Jonny Dreyer und Gertrud Sommerfeld im Gespräch mit Jens Waldvogel. Foto: Klempow
Die Kunden kommen immer wieder. Mittwochs und sonnabends zum Wochenmarkt brummt das Geschäft richtig. Jens Waldvogel ist seit 1993 Inhaber. Auch sein Großvater führte schon den Laden.
Das Tabakwarengeschäft mit der Lotto-Annahmestelle, den Zeitungen und Zeitschriften gehört zu den letzten Fachgeschäften der Innenstadt mit langer Tradition: Um 1900 als „Honig-Niederlage und Versandhaus“, das eine „reichliche Auswahl an Honig aus Raps, Klee, Akazien und Heideblüten“ offerierte, ebenso Kolonialwaren, Delikatessen, Konserven, Weine und Futterstoffe. So heißt es in einer Zeitungsannonce um 1900.

Kolonialwaren und Delikatessen: Die Firma F.A. Waldvogel annoncierte um 1900 als Honig-Niederlage und Versandhaus. Foto: Klempow
Das Haus wurde gleich nach dem Stadtbrand 1659 erbaut und soll zu den Lehrerhäusern des Gymnasiums gehört haben, heißt es in Aufzeichnungen des Stadtarchivs. Der Mathematiker, Astronom und Kalendermacher Voigt lebte dort im 17. Jahrhundert, es folgten Kanzlist Becker, Schneider Falgenberg und Gürtler Steiner. Bis Kaufmann Friedrich August Waldvogel das Haus 1861 kaufte.
Fassade ist verpackt
Seither gibt es das Ladengeschäft im Erdgeschoss, darüber hat Waldvogel seine Büroräume. Dort ist die Decke so niedrig, dass die Räume kaum anders zu nutzen sind. „Mezzaninhöhe“ sagen Bauhistoriker über das Zwischengeschoss. Von außen betrachtet ragt die Außenwand des oberen Stockwerks darüber hinaus. Zu sehen ist sie derzeit nicht, das Haus ist mit einem Arbeitsgerüst verpackt.
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Jens Waldvogel lässt die Fassade sanieren. Die Zuschüsse der Altstadtsanierung machen es möglich. Um die historische Bausubstanz zu sichern, fließt viel Geld auch in private Gebäude. Insgesamt sind dafür drei Millionen Euro vorgesehen.
29 Verträge hat die Stadt mit den Eigentümern privater Häuser geschlossen, 11 davon sind bereits modernisiert. In diesem Jahr stehen 600.000 Euro zur Verfügung, die Bund, Land und Stadt zu gleichen Teilen übernehmen.

Die historische Postkarte zeigt die Große Schmiedestraße um 1906. Ganz links im Bild die Firma Waldvogel, mit Maggi-Werbung und bodentiefen Schaufenstern. Foto: Stadtarchiv Stade
Ohne diese Zuschüsse wäre die teure Fassadensanierung auch für Waldvogel kaum zu wuppen gewesen. Nicht nach den Einschnitten der Corona-Krise. Und oft gibt es bei historischen Häusern Überraschungen. Auch das Handelshaus Waldvogel hatte eine in petto: Balken waren durch frühere Sanierungsfehler angegammelt und mussten erneuert werden, die Arbeiten ziehen sich damit hin und umso länger steht das extra breite Gerüst auch an der Längsseite des Hauses in der Goos.
Neuer Anstrich für das Denkmal
Was Jens Waldvogel nicht nur Nerven kostet. Nach Zimmerern und Maurern arbeiten nun aber die Maler auf dem Gerüst und verpassen den Ziegelsteinen einen denkmalgerechten, roten Anstrich. Die Sanierung ist auf der Zielgeraden. Ein weiterer Meilenstein in den Jahrhunderten der Hausgeschichte.
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In die gehört auch die Anekdote, wie Waldvogels Großvater das benachbarte Eckhaus an der Goos angeboten worden war. Weil das Kaufhaus nebenan damals erweitern und das Haus der Waldvogels kaufen wollte. Aber Opa soll gesagt haben: „Mach ich nicht.“ Hatte er doch im Blick, wie die Arbeiter aus Campe zum Alten Hafen unterwegs waren. Über den Pferdemarkt, die Goos und dann nach links in die Große Schmiedestraße. Nach rechts wäre niemand zum ihm abgebogen, da war er sich sicher.

Maggi hat ein eigenes Werbeschild an der Fassade des Eckhauses bekommen. Die Große Schmiedestraße um 1930. Foto: Stadtarchiv Stade
Die Firma Waldvogel blieb, wo sie war - und wo sie noch heute ist. Jens Waldvogel ist jetzt 60. Er gehört in diesen Laden wie die Humidore, die Spezialschränke, in denen feine Zigarren bei 80 Prozent Luftfeuchtigkeit hinter Glas lagern. Inzwischen pafft auch Waldvogel ab und an eine, aus Genuss. Waldvogel schnackt gern, aber ohne zu viel zu sabbeln. Er hat seine Meinung und tut die auch kund, wenn einer sie hören will. Er ist freundlich und aufmerksam.
„Höflichkeit kost‘ ja nix“

Die Luftfeuchtigkeit sollte bei 80 Prozent liegen, damit die Zigarren optimal in den Humidoren hinter Glas lagern. Foto: Klempow
Waldvogel versucht, jeden Wunsch zu erfüllen, friemelt am Zündstein von Spezial-Feuerzeugen, um sie wieder in Gang zu bringen. Aber wer ohne Gruß kommt oder geht, bekommt ein Grummeln hinterhergeschickt. Nicht zu grüßen, gehört sich nicht. „Büschen Höflichkeit kost‘ ja nix“, findet er. Sagte auch schon seine Mutter. „Ja, ganz richtig“, meint eine Stammkundin und seufzt mit Blick auf den Tippschein und ihre Glückszahlen: „Lotto muss ich noch abgeben. Romane gibt’s diese Woche ja nicht, nech?“

Eingepackt: Das schmale Geschäftshaus Waldvogel in der Großen Schmiedestraße, Ecke Goos. Foto: Klempow
Bei allen lieb gewonnenen Gewohnheiten - seine Stammkunden müssen sich auf Neuerungen einstellen. Montags ist ab sofort zu. Und Waldvogel macht nach all den Jahren jetzt auch mal zwischendurch eine Woche Urlaub mit der Familie. Hat er sich verdient, sagen die Kunden und murren nicht. Die meisten bestärken ihn: „Wir kommen doch sowieso wieder.“
Denn wer den Laden betritt, weiß, was er will: eine bestimmte Sorte Tabak, spezielle Blättchen zum Selberdrehen, ein Feuerzeug für den Chef oder diese ganz bestimmte Handarbeitszeitschrift. Und einen Klönschnack mit Jens Waldvogel, um Neues zu hören und Altes zu bekakeln. Vielleicht aber auch, um ganz kurz dieses Gefühl zu haben, in diesem Dorf zu Hause zu sein.

Ulrich Meggers zeichnete das Haus in der Großen Schmiedestraße nach einem Foto aus dem Jahr 1993. Foto: Archiv Waldvogel