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Frühere Krankenschwester

TStaderin wird 100 Jahre alt: „Hatte immer einen Schutzengel“

Ruth Bätje in ihrem Zimmer. Für jüngere Menschen hat sie einen Rat parat.

Ruth Bätje in ihrem Zimmer. Für jüngere Menschen hat sie einen Rat parat. Foto: Dammer

Ruth Bätje hat ein ganzes Jahrhundert durchlebt. Sie erlebte bahnbrechende Fortschritte, überstand bittere Niederlagen und sammelte unzählige kleine Momente, die Ihr Leben formten.

Von Silvia Dammer Sonntag, 17.12.2023, 09:30 Uhr

Stade. In der Ecke eines kleinen Zimmers im Seniorenheim am Stadtweg in Riensförde steht ein schwarzer Ledersessel. Ruth Bätje liebt ihn. Von hier schaut sie gern aus dem Fenster in die grüne Weite, weil es sie an die alte Heimat erinnert. Ruth Bätje ist eine Geschichtenerzählerin. Ihr Leben gleicht einem funkelnden Diamanten, facettenreich und einzigartig.

Sie kam am 17. Dezember 1923 als Tochter des Bürgermeisters Kunkel auf einem Bauernhof in Niederstrelitz in Polen auf die Welt, eingehüllt in Weihnachtsplätzchenduft und Adventsstimmung. Ihre Kindheitserinnerungen gleichen einem alten Ölgemälde.

Prächtige Bilder eines Lebens - mit dunklen Flecken

Goldene Felder, Kühe auf der Weide, Streuobstwiesen, ein See, ein prächtiges Fachwerkhaus und in der Ferne die Weichsel, einer der größten Flüsse Polens. Dieses Bild hat auch dunkle Flecken. Der tragische Tod ihres Bruders, der im See ertrank oder die Diskriminierung der deutschen Minderheit in Polen.

Da verdankt ihre Familie ihr Leben der polnischen Magd Paula, die sie nach Kriegsausbruch vor marodierenden Banden versteckte. „Ab diesem Zeitpunkt war für mich klar: Ich habe einen Schutzengel“, sagt Ruth Bätje. Ohne Schutzengel könnte sie am Sonntag kaum einen Jahrhundertgeburtstag mit ihrer Familie feiern.

Die härtesten sechs Wochen in ihrem Leben begannen am 25. Januar 1945. Da war sie 21 und musste mit ihren Schwestern, der Mutter, der Großmutter und einer Tante vor den russischen Truppen fliehen. Das war eine 800 Kilometer lange Reise quer durch Deutschland. „Es war eisig kalt“, erinnert sie sich. Mit Pferden und drei Leiterwagen voller Lebensmittel und dem Nötigsten, brachen sie auf. Ihr Vater blieb im Dorf zurück. Sie wussten nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen würden.

Die Flucht voller Entbehrung - und mit Lichtblicken

Ruth Bätje erinnert sich an eine endlose Kolonne von Wagen, an Hunger und eiskalte Füße. Kurz vor der Elbe warnte ein Soldat die Frauen, nach der Rast früh aufzubrechen. Die russischen Truppen waren gefährlich nah. Die Frauen schafften es noch über die Elbbrücke bei Dönitz. Kurz danach wurde sie bombardiert und kaum jemand aus der Kolonne folgte.

Es gab auch Lichtblicke: Freundliche Bauern, bei denen sie Unterschlupf fanden, Hochzeitssuppe, die sie satt machte, und das Dorf Nartum bei Zeven. Hier begann für die junge Frau eine neue Ära, in der auch ihr Vater wieder zur Familie stieß.

Sie lernte ihren zukünftigen Ehemann kennen, bekam einen Sohn und fand als Krankenschwester im Stader Krankenhaus ihre Berufung. Trotz schwerer Zeiten, wie nach dem frühen Tod ihres Mannes, blickte sie immer positiv nach vorne. Ihre Familie mit Sohn, drei Enkeln und zwei Urenkeln wie auch ihr offenes Haus für Besucher, geben ihr bis heute Halt.

Wenn Ruth Bätje erzählt, ist ihre Leidenschaft für das Leben zu spüren. Ihr Lachen steckt an. „Man muss lachen können“, sagt sie, „und nie aufgeben.“ Diese Sätze sind ihr Lebensmotto.

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