TTödlicher Bahnunfall: Wie Lokführer ihn erleben

Vor drei Wochen starb eine Mutter in Mulsum im Kreis Cuxhaven, als ihr Wagen von einem Zug der EVB erfasst worden war. Foto: Overschmidt
Statistisch gesehen überfährt jeder Lokführer mehrmals in seinem Berufsleben unbeabsichtigt einen Menschen. Ein Gespräch über Kontrollverlust und Ohnmacht.
Cuxhaven/Bremen. Mehr als drei Wochen liegt das tragische Bahnunglück zurück, bei dem ein Zug der EVB auf der Strecke Bremerhaven-Cuxhaven an einem unbeschrankten Bahnübergang in Mulsum ein Auto erfasst hat. Die 35 Jahre alte Fahrerin starb; ihre beiden im Auto befindlichen Kinder wurden schwer beziehungsweise lebensgefährlich verletzt. Der Lokführer stand unter Schock.
Für die Psychotherapeutin Jutta Eilers aus Bremen gehören Unglücke wie dieses zum Berufsalltag. Sie weiß, was Lokführer bewegt, die einer Kollision auf Bahngleisen hilflos zuschauen müssen.
Frau Eilers, seit 2009 arbeiten Sie als Betriebspsychologin für die Nordwestbahn. Können Sie sagen, wie viele Lokführer Sie in der Unfallnachsorge behandelt haben?
Jutta Eilers: Nein. Aber es ist ein Dauerthema, und wir haben viel damit zu tun. Es gibt keine Zeit im Jahr, in der nicht einer oder mehrere Lokführerinnen oder Lokführer in meiner Praxis sind. Manchmal haben wir es mit 10 Fällen im Jahr zu tun, manchmal sind es aber auch 20.
Es heißt, dass es Lokführern im Schnitt zweimal in einem 45-jährigen Berufsleben passiert, dass sie einen Menschen ungewollt überfahren. Können Sie das bestätigen?
Im Schnitt stimmt das ungefähr. Ich hatte auch schon einen Lokführer hier, dem ist das 7-mal passiert. Und ich kenne den Fall eines Kollegen, da waren es 13-mal. Bei einem meiner Patienten sind in anderthalb Jahren drei Menschen zu Tode gekommen.
Wie erleben Lokführer ein Bahnunglück, bei dem ein Mensch stirbt?
Wenn es zu so einem Unfall kommt, dann überschlagen sich die Ereignisse von einer Sekunde auf die andere. Der Lokführer fährt geradeaus, und plötzlich steht ein Auto auf einem Bahnübergang. Oder hinter einem Brückenpfeiler tritt ein Mensch auf die Gleise. In dieser Sekunde bleibt dem Lokführer nur die Vollbremsung und das Pfeifen. Mehr kann er nicht tun. In diesen Momenten erleben Lokführer überdurchschnittlich häufig einen Kontrollverlust: Sie können tatsächlich wenig tun. Sie können nicht ausweichen. Wir haben auch Fälle, wo die Lokführerin oder der Lokführer alles getan hat und trotzdem – aufgrund des langen Bremsweges – weiter auf ein Fahrzeug oder einen Menschen auf den Gleisen zufährt. Er weiß, er kann es nicht mehr verhindern. Dieser Kontrollverlust, diese Ohnmacht, diese Hilflosigkeit, die in diesem Moment entsteht, hat ein hohes traumatisches Potenzial.
Was heißt das?
Was dort innerhalb von Sekunden passiert, wird häufig anders im Gehirn abgespeichert, als es normalerweise der Fall ist. Normalerweise speichern wir ein Erlebnis von Anfang bis Ende als eine vollständige Geschichte ab. Kommt es zu einer traumatischen Verarbeitung, wird das Erlebte fragmentiert, also in vielen unzusammenhängenden Einzelteilen abgespeichert.
Wie äußern sich diese Traumata?
Die Menschen, die bei mir in der Praxis sitzen, berichten fast alle von Schlafstörungen. Sie sagen, dass ihnen die Bilder immer wieder durch den Kopf gehen; manchmal sind es Geräusche oder Gerüche, die sie nicht loswerden. Schon einen Bahnhof von weitem zu sehen oder etwas im Fernsehen mit einem Zug, löst so viel in ihnen aus, dass sie in eine totale innere Unruhe geraten. Sie können sich oft nicht mehr gut konzentrieren, sind gereizt oder weinen, obwohl sie das sonst nicht tun. Wir haben es mit einer Vielzahl an Stresssymptomen zu tun, die dann als akute Belastungsreaktion auftauchen können.
Dann kommen Sie zum Einsatz?
Nicht zwingend. Bei der Nordwestbahn ist zunächst die Bahnärztin in jedem Fall involviert. Sie spricht mit jedem, dem so etwas passiert. Schließlich muss eine Lokführerin, muss ein Lokführer tauglich sein. Sie oder er trägt viel Verantwortung. Es kommen aber letztlich viele der Betroffenen auch zu mir in die Praxis. Auch wenn es vielleicht nur ein, zwei oder drei Gespräche sind, ist es sinnvoll, mit jemandem zu sprechen, der sich mit solchen Fällen auskennt. Tatsächlich landen Betroffene bei der Nordwestbahn fast automatisch bei mir. Niemand wird gezwungen, aber das Angebot ist niedrigschwellig und wird gut angenommen.
Wie sieht Ihre Arbeit mit den Betroffenen aus?
Zunächst gehen wir ins Gespräch. Ich vermittle, dass die aufgewühlte Gefühlswelt nach so einem Ereignis normal ist. Im direkten Kontakt haben wir die Chance, dass wir schnell unterstützen können und die Menschen nicht lange mit ihrer Stresssymptomatik alleine sind. Viele Menschen sagen mir, dass sie sich noch nie in ihrem Leben so gefühlt haben. Das verunsichert und macht Angst. Und wenn etwas Angst macht, führt das nicht unbedingt dazu, dass ich zur Ruhe komme und die Dinge besser verarbeiten kann. Also versuche ich zunächst einmal, Sicherheit zu vermitteln.
Gibt es neben dem verbalen Austausch auch andere Behandlungsmethoden?
Natürlich ist die Sprache das, was wir Psychotherapeutinnen viel nutzen. Darüber hinaus gibt es verschiedene Methoden, die wir in der Traumatherapie anwenden. Ich arbeite unter anderem mit EMDR, das ist eine Therapiemethode, die mit Augenbewegungen arbeitet und beide Gehirnhälften stimuliert. Laut aktueller Forschung führt das dazu, dass sich darunter das Gehirn beruhigt und dann die Strukturen des Gehirns, die Informationen ins Langzeitgedächtnis transportieren, wieder besser arbeiten können.
Kennen Sie auch Lokführer, die keine professionelle Hilfe benötigen?
Ja, es gibt auch Menschen, die ein schweres Ereignis erlebt haben, tief durchatmen, die eine oder andere Nacht darüber schlafen und nach einer Woche wieder fahren. Man muss nicht daran erkranken. Aber die Wahrscheinlichkeit, eine akute Belastungsreaktion mit den geschilderten Stresssymptomen zu erleiden, ist nicht gering. Oft klingt sie nach wenigen Wochen von allein ab. Bei anderen stockt die Verarbeitung, weil das Erlebte so fragmentiert im Gehirn abgespeichert ist, dass es sich von allein nicht löst. Das kann monate- und jahrelang so weitergehen, wenn es unbehandelt bleibt.
Familientragödie
T Tödlicher Unfall in Mulsum: Unbeschrankte Bahnübergänge in der Kritik
Gibt es auch Menschen, denen Sie nicht helfen können?
Ein stabiler Mensch, der als Erwachsener ein Akuttrauma erlebt, hat eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass er das Erlebte gut verarbeiten kann. Dennoch sind die Verläufe sehr unterschiedlich. Manche sind ein ganzes Jahr raus aus dem Job. Und ja: Über die vielen Jahre kenne ich auch den einen oder die andere, die nicht zurückgefunden haben und den Beruf nicht mehr ausüben können.
Macht es einen Unterschied, ob es sich um einen Unfall oder Suizid gehandelt hat?
Mitunter schon. So tragisch Suizide sind, helfen sie manchmal dabei, Verantwortung abzugeben – im Sinne von: Das hat der Mensch so für sich entschieden und gewollt.
Sie arbeiten bei der Nordwestbahn auch präventiv. Wie sieht diese Arbeit aus?
Jeder Mensch, der eine Lok führen möchte, benötigt eine psychologische Tauglichkeit. Ich spreche mit allen, die bei der Nordwestbahn Lokführer werden wollen, noch vor Beginn der Ausbildung darüber, dass diese tödlichen Bahnereignisse stattfinden, wie oft sie stattfinden und ob die Bewerber wirklich gewillt sind, das in Kauf zu nehmen. Ich erkläre auch jedem, was das mit Menschen machen kann.
Ferner schulen wir bei der Nordwestbahn Mitarbeitende zu Erstbetreuenden. Die fahren raus an die Unfallstelle zu den Kollegen und sorgen dafür, dass diese gut wieder zu Hause ankommen. Die Kollegen wissen, dass es nach schweren Unfällen ein Betreuungskonzept gibt. Das sorgt für Sicherheit. Eine Kultur des Miteinanders und der Offenheit zu diesen Ereignissen sind zudem wahnsinnig gute Präventionsfaktoren. Am liebsten wäre es uns, wir könnten solche Ereignisse verhindern. Das wäre die beste Prävention. Aber das können wir leider nicht.