TToter vom Stader Bahnhof: Anwalt der Opferfamilie geht von Racheakt aus
Spurensuche am Tatort: In dem Beet legten die Täter den Toten vom Bahnhof ab. Foto: Polizei
Haben die Angeklagten Mehmet S. gezielt aus Rache getötet? Die Verteidiger sagen Nein. Sie geben den deutschen Behörden sogar eine Mitschuld an seinem Tod.
Stade. Der Prozess um den Toten vom Stader Bahnhof nähert sich dem Ende. In dieser Woche folgten weitere Plädoyers. Der Nebenklage-Anwalt Rasul Özpek machte dabei deutlich, dass die Familie von Mehmet S. eine hohe und gerechte Strafe erwarte. Die Hinterbliebenen müssten mit einem Verlust umgehen, der „nicht begreifbar ist“.
Für Özpek handelt es sich um eine „Tötung im Rahmen einer Vergeltungsaktion“. Die Angeklagten Yunus K. und Hasan S. hätten Mehmet S. am 21. Januar 2024 mit Faustschlägen und Fußtritten vor dem Parkhaus am Stader Bahnhof so stark traktiert, dass dieser einen Tag später im Elbe Klinikum starb.
Die Angeklagten seien von Wut, dem Wunsch nach Vergeltung „und dem Willen getrieben worden, sich selbst zum Richter zu machen“. Yunus K. wollte sich laut Nebenklage an Mehmet S. rächen, weil dieser ihn am 23. November 2023 am Bahnhof in Horneburg mit einem Messer verletzt hatte.
Mehmet S. habe „Angst gehabt, von ihnen getötet zu werden“. Er wusste, dass sie auf der Suche nach ihm waren. Das Opfer sei nicht verrückt, die Todesfurcht nicht übertrieben gewesen. Özpek sprach von einer hinterlistigen Tat.
Nebenklage: Kein Recht auf Rache und Selbstjustiz
Mehmet S. sei ahnungslos gewesen, als ihn die Faust von Hasan S. traf und er kerzengerade nach hinten stürzte. Er zog sich ein Schädel-Hirn-Trauma und Knochenbrüche am Kopf zu. Die Gewalt verstärkte die Folgen. Mehmet S. war nach dem Aufprall auf die Straße sowie Schlägen und Tritten komatös. Blut konnte er nicht mehr aushusten, es verstopfte die Atemwege.
Özpek beklagte, dass die Verteidigung den Tod von Mehmet S. kleinrede. Er kritisierte auch die Staatsanwaltschaft. Diese habe lediglich sechseinhalb Jahre Haft für Yunus K. wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung mit Todesfolge gefordert. Das sei zu milde.
Von einem Urteil müsse die klare Botschaft ausgehen, „dass Rachsucht und Selbstjustiz keinen Platz im Rechtsstaat haben“. Damit schloss sich Özpek seiner Kollegin Dr. Christiane Yüksel an. Die hatte acht Jahre für Yunus K. gefordert.
Verteidiger: Es gab keine Tötungsabsicht
„Ich bin überrascht von Ihrer Sichtweise“, sagte der Verteidiger von Yunus K., Cem Sengül. Keiner habe Mehmet S. töten wollen. Für Mord und Totschlag sei ein Bahnhof ein denkbar schlechter Ort. Sengül sprach von einem spontanen Aufeinandertreffen.

Die Göttin Justitia im Gegenlicht: Anfang Januar wird das Urteil im Prozess um den Toten vom Bahnhof erwartet. Foto: picture alliance/dpa
Das Opfer habe unter einer paranoiden Schizophrenie gelitten - und sei bereits vorher wegen Attacken wie die in Horneburg aufgefallen. Hätten Gerichte, Polizei und Betreuer sich richtig um den psychisch Kranken gekümmert, wäre es nicht zu dieser Tat gekommen. Sengül sagte deutlich: „Er hätte nicht auf der Straße sein dürfen.“
Die Körperverletzung sei auch durch die Angst von Yunus K. begründet gewesen, dass Mehmet S. „erneut ein Messer zieht“. Es habe keinen Tritt gegen den Kopf gegeben. Sein Mandant habe Mehmet S. zur Rede stellen und herausfinden wollen, warum dieser ihm mit dem Messer in Lunge und Bein gestochen habe.
Neun Schüsse: Angeklagter hatte Angst nach Attentat
Dass Mehmet S. sich bei ihm nach der Messerattacke in Horneburg nicht entschuldigt habe, habe ihn emotional getroffen. Sein Mandant sei über den Tod entsetzt gewesen, versicherte Sengül.
Mit Blick auf das Urteil kann übrigens noch eine Episode aus der Türkei eine wichtige Rolle spielen. Dorthin war Yunus K. abgeschoben worden, weil er sich illegal in Deutschland aufgehalten hatte. Und in der Türkei wurde auf sein Auto geschossen - von Familienmitgliedern des Opfers vom Bahnhof.
Neun Schüsse seien in Alanya auf Yunus K. abgefeuert worden, vier Projektile hätten dessen Pkw getroffen, berichtete Verteidiger Sengül. In „akuter Todesgefahr“ wollte Yunus K. unbedingt zurück nach Deutschland. Und wegen des Vorfalls in der Türkei habe er Angst vor der Familie von Mehmet S. gehabt.
Um des Friedens willen habe die Familie von Yunus K. ihre Anzeige gegen die Großfamilie von Mehmet S. infolge des Angriffs in der Türkei zurückgezogen. In Friedensgesprächen sei ein Blutgeld von 450.000 Euro gefordert worden. Letztlich seien 320.000 Euro als Entschädigung für den Tod von Mehmet S. festgelegt worden. Das alles fand in der Türkei statt.
Sengül fordert Strafe im „unteren Bereich“
Im Prozess vor dem Stader Landgericht wies Sengül darauf hin, dass laut Strafgesetzbuch ein bis zehn Jahre Haft in Betracht kämen. Wegen des „geringen Tatbeitrags“ sollte das Gericht eine Strafe „im unteren Bereich“ für den geständigen und reuigen Yunus K. in Betracht ziehen. Der Tod von Mehmet S. sei fahrlässig herbeigeführt worden.

Blick auf den Haupteingang des Landgerichts in Stade. Foto: Vasel
„Es gab keine Tötungsabsicht“, sagte auch die Verteidigerin von Hasan S., Dinah Busse. Ihr Mandant hatte das Opfer mit einem Schlag niedergestreckt. Er sei tief betroffen und habe sich für einen Täter-Opfer-Ausgleich eingesetzt und 5000 Euro angeboten. Dass die Opferfamilie diesen in Deutschland abgelehnt habe, sei nicht redlich. Sie wolle damit eine Strafmilderung verhindern. Zwei Jahre auf Bewährung hält Busse für angemessen.
Laut Verteidigung habe die Familie K. bereits in der Türkei eine Anzahlung von 20.000 Euro geleistet, weitere 300.000 Euro sollen folgen. Laut Busse gibt es einen Whatsapp-Chat mit Geldbündel-Foto. Von einer „Lüge“ spricht die Opferfamilie.
Verteidiger: Gericht ist kein Ort für Rache
Die Verteidiger der drei übrigen Angeklagten waren sich einig, dass „ohne aktive Handlung“ von Beihilfe oder Unterlassen keine Rede sein könne. Gül Pinar, Andreas Thiel, Rainer Mertins und Ayk Bielke forderten Freispruch oder im Fall von Isa K. wegen Waffenbesitzes eine Bewährungsstrafe unter einem Jahr.

Die Razzia belastet die Angeklagten - nach eigener Aussage - psychisch bis heute. Eine Ehefrau verlor laut Anwalt infolge der Türsprengung das ungeborene Kind. Foto: Vasel
„Mitgehangen heißt nicht mitgefangen“, erklärte Dr. Dirk Meinicke. Der Tod sei tragisch. Gül Pinar sagte an die Adresse der Opferfamilie: „Das Gericht darf kein Ort der Rache werden.“ Strafrecht müsse gerecht sein.
Die 3. Große Strafkammer am Landgericht Stade unter dem Vorsitz von Richter Marc-Sebastian Hase will am Mittwoch, 7. Januar, 9.15 Uhr, das Urteil sprechen.
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