TTrotz Fehlbildungen durch Contergan: Bianca Vogel Schmidt ist erfolgreich

2004 gewann Bianca Vogel, die seit ihrer Hochzeit im vergangenen Jahr Vogel-Schmidt heißt, bei den Paralympics in Athen Silber in der Dressur. Foto: privat
Bianca Vogel-Schmidt lässt sich nicht von den körperlichen Einschränkungen ausbremsen. Die Contergan-Geschädigte aus dem Kreis Cuxhaven spricht im Bundestag und holt einen Weltmeistertitel.
Landkreis Cuxhaven. Sachlich und ohne Umschweife bringt es Bianca Vogel-Schmidt auf den Punkt: „Ich habe kurze Arme, meine Hände beginnen an der Schulter. Ich laufe, aber wie alle Contergan-Geschädigten habe ich durch den Wirkstoff Thalidomid innere Schäden, das heißt, das Knochengerüst ist verkrüppelt.“
Mit drei Jahren wird sie zum ersten Mal an beiden Hüften operiert. „Meine Eltern durften mich nach der OP nur durch ein Fenster sehen und nicht in die Arme nehmen. So etwas ist heute unvorstellbar.“
Contergan-Skandal: Ursache schwerer Fehlbildungen
Die gebürtige Rheinland-Pfälzerin kommt Anfang 1961 zur Welt. Im November desselben Jahres wird das Mittel Contergan vom Markt genommen. Zwei Ärzte aus Deutschland und Australien hatten zuvor über einen Zusammenhang zwischen Contergan und schweren Fehlbildungen von Kindern geschrieben, wenn das Mittel zwischen dem 34. und dem 50. Tag der Schwangerschaft eingenommen wurde.
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Bei vielen „Contergan-Kindern“ waren Arme oder Beine verkürzt. Bei manchen beides. „Es war vom genauen Einnahmezeitpunkt abhängig, wie viel von Armen oder Beinen fehlte“, sagt Vogel-Schmidt.
Contergan war ein Schlaf- und Beruhigungsmittel, das zwischen 1957 und 1961 in Deutschland verkauft und auch gegen Schwangerschaftsübelkeit verschrieben wurde. Entwickelt hatte es das deutsche Pharmaunternehmen Grünenthal.
Sicher habe sie als betroffenes Kind von Contergan gehört. „Aber es war nie ein beherrschendes Thema in meiner Kindheit“, sagt Bianca Vogel-Schmidt. Ihre Mutter habe sie immer bestärkt und dafür gesorgt, dass sie einen Kindergarten und später eine Schule wie gesunde Kinder besucht. „Meine Mutter war eine engagierte, starke Frau, die damals Integration und Inklusion gelebt hat, ohne dass sie diese Begriffe kannte.“
„Als würde ich zum ersten Mal bewusst in einen Spiegel schauen“
Wie sehr sie sich von anderen Kindern unterschied, habe sie erst mit 13 Jahren vollends registriert. Beim Besuch eines Heintje-Konzerts mit ihrer Großmutter begegnet sie in der Pause zum ersten Mal in ihrem Leben einem Mädchen, das so aussieht wie sie selbst. „Das war, als würde ich zum ersten Mal bewusst in einen Spiegel schauen.“
Beruf und Ausbildung
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Ein schicksalhaftes Zusammentreffen. „Aufgrund dieser Begegnung bin ich später freiwillig in eine Integrativschule nach Köln gegangen“, erzählt Vogel-Schmidt. Es seien erste Schritte zur gleichberechtigten Integration behinderter Kinder in die Gesellschaft gewesen. „Die Klassen waren damals noch getrennt, aber die Pausen haben wir alle zusammen verbracht.“
Nach der Realschule absolviert sie eine Ausbildung zur Erzieherin. „Eigentlich war das unmöglich, so einen Beruf als behinderter Mensch auszuüben. Aber es war mir wichtig, vorzuleben, dass es auch mit Behinderung die Möglichkeiten gibt, berufstätig zu sein.“
Bianca Vogel-Schmidt: Pionierin in Sport und Beruf
Bianca Vogel-Schmidt fühlt sich wie eine Pionierin der Inklusion – lange, bevor die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft ankommt. „Es war mir wichtig, über meine Behinderung in gewisser Hinsicht Selbstverständlichkeit zu vermitteln.“ Mit Kindergarten-Kindern, die Vogel-Schmidt 30 Jahre lang betreut und erzieht, habe das sehr gut funktioniert. „Am Ende haben die größeren Kinder den kleineren erklärt, warum ich keine Arme habe.“
Neben der Leidenschaft für ihren Beruf brennt sie für ihr Hobby, das Reiten. Entfacht wurde es bei einem Training für mehr Selbstständigkeit. Da war Bianca Vogel-Schmidt zehn. Zunächst nimmt sie heimlich Reitstunden, die sie mit Fegen und Ausmisten finanziert. Mit 16 darf sie sich von ihrer „Contergan-Rente“ ein Pferd kaufen. Bei einem Sichtungsturnier löst sie das Ticket für die allerersten Weltmeisterschaften für behinderte Reiter – und holt 1991 den ersten Weltmeistertitel im Dressurreiten.
Paralympics in Athen 2004: Silber im Dressurreiten
Es folgen viele weitere Turniere. 1996 erkämpft sie sich in Atlanta einen achten Platz bei den Paralympischen Spielen. Bei den Weltmeisterschaften 1999 in Dänemark holt sie allein zweimal Gold und einmal Silber im Team. Auch bei den Paralympics in Athen 2004 trägt ihr Pferd sie zu Edelmetall – Silber im Einzel und in der Mannschaft.
Ihr Pferd Roquefort holt sogar noch die dritte Silbermedaille. Vogel-Schmidt leiht es einer Teamkollegin, deren Pferd sich verletzt hatte. 2005 wird sie für ihr sportliches Verhalten bei der „Paralympics Night“ im Oktober 2005 mit dem Fair-Play-Preis des Bundesinnenministers geehrt.
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2011 beendet Vogel-Schmidt ihre sportliche Karriere aus gesundheitlichen Gründen. Die Medikamente, die sie mittlerweile braucht, um ihren Beruf auszuüben, gelten in ihrem Sport als Doping. „Es war schlimm“, sagt sie bis heute über ihren Entschluss, den Reitsport an den Nagel zu hängen. „Aber ich habe die Reißleine gezogen, weil ich Geld verdienen musste.“
Höhere Entschädigungen für Contergan-Geschädigte erkämpft
Zu jenem Zeitpunkt hat die ehrgeizige Kämpferin längst ein neues Feld betreten. Als stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes Contergan-Geschädigter ringt sie um eine „gerechte Entschädigung“ für Menschen, die wie sie durch Contergan geschädigt wurden.
Vogel-Schmidt erinnert sich an „acht Jahre harte Arbeit“. Eine Zeit, in der sie mit vielen anderen Betroffenen fordert, dass die Folgen der Fehlbildungen anerkannt werden, höhere Renten gezahlt, Betroffene besser an Entscheidungen beteiligt werden und der Zugang zu Hilfsmitteln und Assistenz vereinfacht wird.
Es sind die Folgen von untypischen Bewegungen, mit denen Vogel-Schmidt und andere Contergan-Geschädigte leben müssen. In jungen Jahren hätten sie sich dadurch ein Stück Selbstständigkeit erobert. „Dadurch haben wir über die Jahre unseren Körper verschlissen und überfordert.“ Wie Vogel-Schmidt, die ihre Zähne zum Greifen benutzt. Nach und nach musste ihr Gebiss gegen Implantate ausgetauscht werden.
Bianca Vogel-Schmidt spricht im Bundestag
Als 2013 eine Studie der Universität Heidelberg zur Lebenssituation Contergan-Geschädigter im Bundestag vorgestellt wird, ist Bianca Vogel-Schmidt als eine von zehn Sachverständigen eingeladen.
Sie sei in ihrer Kindheit ein „interessantes medizinisches Anschauungsobjekt“ gewesen, sagt sie im Bundestag, sie habe Operationen und schlechte Prothesen ertragen müssen. Und: „Um meinen Alltag überhaupt erträglich gestalten zu können, bin ich auf starke Schmerzmittel angewiesen.“
Der Kampf zahlt sich aus. Zum 1. August 2013 werden die Entschädigungsleistungen für Contergan-Geschädigte erhöht.
Traum von Olympischen Spielen für alle Sportler
Doch Vogel-Schmidt sieht sich noch lange nicht am Ziel. Als ehemalige Sportlerin träumt sie davon, dass sich einmal alle Teilnehmer von Olympischen Spielen ein olympisches Dorf teilen.
Die Wettbewerbe stellt sie sich so vor, dass Nichtbehinderte gegen Nichtbehinderte und Behinderte gegeneinander antreten. „Und, da wo es passt, auch noch beide gemischt.“ Aber schon das Zusammensein von Sportlern mit und ohne Handicaps wäre aus Vogel-Schmidts Sicht ein Riesengewinn: „Sich zuschauen, anspornen, unterstützen – das ist Inklusion.“
Am 26. März wird die Inklusions-Botschafterin eine Veranstaltung zum Thema Inklusion in Dorum moderieren. „Die Grundvoraussetzung für Inklusion“, sagt sie, „ist Demokratie.“ Genau darum mache sie sich aber angesichts der aktuellen extrem rechten Strömungen in der Gesellschaft große Sorgen. „Wir sind noch lange nicht da, wo wir einmal hinwollen.“
Inklusionsabend
Der Beirat für Inklusion im Landkreis Cuxhaven lädt für Mittwoch, 26. März, 18.30 Uhr, zu einem öffentlichen Inklusionsabend in die Dorumer Oberschule Achtern Diek ein. Einige Teilnehmer und Teilnehmerinnen wurden vom Inklusionsbeirat eingeladen, um über ihre Erfahrungen mit der Inklusion zu berichten. Moderiert wird die Veranstaltung von der ehemaligen Leistungssportlerin Bianca Vogel-Schmidt.
Der Veranstaltungsort ist barrierefrei zugänglich, Gebärden- und Schriftdolmetscher werden vor Ort dabei sein. Zur besseren Planbarkeit bittet der Beirat um Anmeldungen per Mail unter Inklusionsbeirat@landkreis-cuhaven.de oder telefonisch über 04721/ 66-2872.

Bianca Vogel Schmidt reist gern – privat durch die Welt und als Inklusionsbotschafterin durch Deutschland. Foto: privat