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Selbstbestimmt Leben

TTrotz Schwerstbehinderung: 23-Jährige lebt in den eigenen vier Wänden

Lilli Zeifert ist 23 Jahre und schwerstbehindert. Das Foto von ihr strahlt trotzdem jede Menge Energie aus.

Lilli Zeifert ist 23 Jahre und schwerstbehindert. Das Foto von ihr strahlt trotzdem jede Menge Energie aus. Foto: privat

Das Pflegeheim war für sie keine Alternative. Lilli Zeifert lebt trotz Schwerstbehinderung ein selbstbestimmtes Leben. Kommt ihr Modell auch für andere infrage?

Von Inga Hansen Montag, 30.09.2024, 07:12 Uhr

Kreis Cuxhaven. Das Foto auf der Webseite von Lilli Zeifert strahlt Kraft aus. In schwarzen Lederklamotten posiert die 23-Jährige, die mit ihren Eltern um die Welt gesegelt ist, jetzt an der Uni in Potsdam studiert und Fantasy-Romane schreibt. Und ach ja, die junge Frau, von der wir hier sprechen, ist schwerstbehindert. Ein Umstand, den man kaum glauben mag, wenn man sich ihr Leben so anschaut. „Lilli ist einfach phänomenal“, schwärmt ihre Mutter Ines Zeifert, die im Garten ihres alten Bauernhauses in Altluneberg sitzt.

Schwerstbehinderte Tochter wollte nicht mit 21 ins Pflegeheim

Möglich machen das zwei Assistentinnen, die die 23-Jährige rund um die Uhr betreuen. Die Helfer hat Lilli selbst eingestellt. Sie leihen ihr Arme und Beine, ziehen sie an und aus, füttern sie. Was für die meisten Menschen selbstverständlich ist, wird so für Lilli erst möglich: essen, aufs Klo gehen, studieren, Freunde treffen, wann sie möchte. „Mit 21 ins Pflegeheim, das war für meine Tochter keine Alternative“, erzählt Ines Zeifert. „Sie wollte studieren, ihr eigenes Leben leben.“

Seit einigen Jahren ist das für Menschen mit Behinderungen in Deutschland auch abseits der Heime möglich. Im Bundesteilhabegesetz, das seit 2017 existiert, ist noch einmal ausdrücklich festgeschrieben, dass die Betroffenen selber bestimmen, wo und wie sie leben. Um die Assistenten, die sie für die Bewältigung des Alltags brauchen, einstellen zu können, erhalten sie Geld - ein sogenanntes persönliches Budget. Die Höhe ist abhängig von der Pflege, die man benötigt.

In diesem über 200 Jahre alten Bauernhaus in Altluneberg hat Ines Zeifert eine Behinderten-WG eröffnet.

In diesem über 200 Jahre alten Bauernhaus in Altluneberg hat Ines Zeifert eine Behinderten-WG eröffnet. Foto: Hansen

Bauernhaus ist „ein wunderbarer Platz für Behinderten-WG“

Ines Zeifert möchte nun in ihrem alten Bauernhaus in Altluneberg ein neues Wohnmodell für behinderte Menschen anbieten. Nachdem Tochter Lilli ausgezogen ist, war ihr und ihrem Mann das Haus zu groß, sie sind zurück ins Umland von Berlin gezogen. „Erst wollten wir das Haus verkaufen“, erzählt sie. „Aber dann kamen wir auf die Idee, dass das ein wunderbarer Platz ist, um hier eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Beeinträchtigungen zu gründen.“

Vier Menschen mit Behinderungen könnten dort wohnen, auch für die Assistenten gibt es in dem Fachwerkhaus mit 220 Quadratmetern Wohnfläche und zwei Bädern genügend Zimmer. Auch Kurzzeitpflege oder Urlaubsbetreuung ist dort möglich, sagt die 54-Jährige. Die Agentur, die Zeifert zusammen mit Annett Maier-Döbler aus der Taufe gehoben hat, ist zudem dabei behilflich, Anträge für die Auszahlung eines persönlichen Budgets zu stellen sowie Assistenten zu finden.

Zeifert: Wir können für Ersatz sorgen, wenn ein Assistent ausfällt

„Der große Vorteil“, so Zeifert, „ist, dass wir Kontakt zu einem Pool von potenziellen Mitarbeitern haben und so Ersatz bieten können, wenn mal ein Assistent ausfällt.“ Die gelernte Opernsängerin hat sich in die Materie eingearbeitet. Es blieb ihr nichts anderes übrig, nachdem ihre Tochter Lilli als Baby nach einer verschleppten Gelbsucht eine Hirnschädigung erlitten hat. Lilli kann nicht laufen, sie kann nicht sprechen, sie kann nicht ohne Hilfe essen, ihr Oberkörper bewegt sich unablässig und unkontrolliert. Zeifert musste ihr Engagement als Opernsängerin aufgeben und sich ganz um ihre kleine Tochter kümmern.

Als das Kind größer wurde, spürte die Mama bald, dass Lilli normal intelligent ist, wie sie betont. Auf der Förderschule für Körperbehinderte sei sie aber nicht ausreichend gefördert worden, erzählt Zeifert. „Dann hab ich sie auf eine normale Dorfschule geschickt und später dann aufs Gymnasium. Auch das ging natürlich nur mit einer Assistenz.“

Lilli Zeifert kann nur mit ihrem linken Fuß schreiben und malen.

Lilli Zeifert kann nur mit ihrem linken Fuß schreiben und malen. Foto: privat

„Lilli schreibt mit dem linken Fuß - und mit großer Leidenschaft“

Die Schule eröffnete dem behinderten Mädchen den Zugang zu einer neuen Welt. Sie entdeckte das Schreiben - als den Weg für sie, um mit anderen in Kontakt zu treten. Und als Möglichkeit, sich Geschichten auszudenken und sie niederzuschreiben. „Sie schreibt mit dem linken Fuß - und mit großer Leidenschaft“, erzählt die Mutter.

2015 entschließt sich die Familie trotz der schweren Behinderung des Mädchens, die Welt zu besegeln. In den Segelpausen startet Lilli durch, begeistert sich für Planetenforschung, absolviert Praktika bei CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf, und bei der Europäischen Weltraumorganisation ESA.

Trotz ihrer schweren Behinderung studiert Lilli Zeifert heute

Nach dem Fach-Abitur am Bremerhavener Lloyd Gymnasium geht sie nach Potsdam, um Physik zu studieren. Der Start misslingt, unter den Naturwissenschaftlern fühlt sie sich mit ihrer auffälligen Behinderung nicht angenommen. Doch Lilli lässt sich nicht entmutigen. „Sie sagt immer, ‚Mama, ich kenne das ja nicht anders‘“, erzählt Ines Zeifert.

Heute studiert die 23-Jährige Kulturwissenschaften und Linguistik, fühlt sich dort pudelwohl, schreibt nebenher Fantasy-Romane und Musical-Kritiken, die sie auf der eigenen Webseite veröffentlicht. „Sie hat ein tolles Gehör“, schwärmt die Mama, die ja selbst vom Fach ist. Kurzum: Lilli Zeifert führt ein selbstbestimmtes Leben - obwohl sie schwerstbehindert ist.

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