TUnheilbar krank: Wie eine Familie mit dem Schicksal ihrer Tochter umgeht

Familie Köhler gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihrer Tochter irgendwann doch noch geholfen werden kann und sie wieder gesund wird. Foto: Köhler privat
„Es war ein Schlag ins Gesicht“. Mit der Diagnose ihrer Tochter war im Leben der Köhlers nichts mehr, wie es war. Doch die Cuxhavener Familie gibt nicht auf.
Cuxhaven. Die Wohnung von Familie Köhler ist bestückt mit vielen Familienfotos. Aus Zeiten vor Chiaras Krankheit - und aus Zeiten mit Chiaras Krankheit. Doch egal in welchem Moment die Bilder entstanden sind, eine Sache fällt dabei immer auf: Chiaras Lächeln. Auf allen Fotos strahlt sie in die Kamera. Auch ihr Kinderzimmer wirkt im ersten Augenblick wie ein normales Mädchenzimmer. Bunte Luftballons, Kuscheltiere, viele Figuren von ihrer Lieblingszeichentrickserie „Paw Patrol“ zieren die Regale. Beim genaueren Hinsehen fallen jedoch die vielen medizinischen Geräte und Materialien auf, die Chiara für ihren Alltag benötigt.
Ein Jahr verging, bis die Diagnose feststand
Mutter Ramona Köhler kommen zwischendurch die Tränen, wenn sie über die letzten Jahre spricht. Denn im Jahr 2020 wurde bei ihrer damals zweijährigen Tochter Chiara die unheilbare genetisch bedingte Erkrankung namens Metachromatische Leukodystrophie (MLD) diagnostiziert. Bis Familie Köhler Klarheit erhielt, was mit ihrer Tochter los ist, verging gut ein Jahr. Erst dann stand die Diagnose fest. Die MLD ist eine seltene Stoffwechselerkrankung mit neurodegenerativem Charakter. Sie wird durch den Mangel des wichtigen Enzyms Arylsulfatase A verursacht. Dadurch sammeln sich im Körper Chemikalien (Sulfatide) an, die das Nervensystem, die Nieren, die Gallenblase und andere Organe schädigen. Etwa eines von 100.000 neugeborenen Kindern erkrankt im Laufe seines Lebens an einer MLD.
Funktionen des Körpers gingen verloren
Chiara war ein Jahr alt, als ihrer Mutter Ramona Köhler die ersten Auffälligkeiten erkannte. „Es war am Abend. Chiara saß im Hochstuhl und mir ist aufgefallen, dass irgendetwas mit ihren Augen war. Sie flimmerten und sie schielte“, erinnert sich Ramona Köhler. Zunächst ging es also zum Augenarzt, der die Familie weiter in eine Augenklinik nach Bremen schickte. „Aber auch da konnten sie nichts herausfinden“, erinnert sich Vater Sebastian Köhler. Bis auf die Auffälligkeit mit den Augen entwickelt sich Chiara zu diesem Zeitpunkt wie ein ganz normales Kind. „Sie ist geklettert, gerne mit dem Fahrrad mit Stützrädern gefahren und hat geplappert wie ein Wasserfall“, so Mutter Ramona.

Chiara Köhler im Mai 2020. Damals konnte sie noch laufen. Foto: Köhler privat Foto: privat
Auf dem Handy zeigt sie Videos, auf denen Chiara selbstständig isst, redet und voller Freude eine Runde im Karussell fährt. Mittlerweile kann sie all das nicht mehr. Das ist das typisch tückische Gesicht der Krankheit. Sie sorgt dafür, dass allmählich die Funktionen des ganzen Körpers verloren gehen und sich immer weniger weiterentwickeln. Nach unzähligen Untersuchungen stellte eine Klinik eine Verdachtsdiagnose und schickte die Familie zu einem Spezialisten nach Hamburg. Dort wurde die MDL bestätigt. „Es war ein Schlag ins Gesicht“, erinnert sich Ramona Köhler, die damals noch ihrem Teilzeitjob nachging.
Eine Welt ist zusammengebrochen
Während Chiara älter wird, zeigen sich weitere Veränderungen, die die unheilbare Krankheit mit sich bringt. Als Erstes machen die motorischen Fähigkeiten Probleme. „Eines Morgens konnte Chiara nicht mehr laufen, nur noch krabbeln. Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben“, erklärt Mutter Ramona. Ihre Tochter nahm zuvor bereits an einer Studie in Tübingen teil, bei der ihr ein Port gelegt wird, der Hirnflüssigkeit entnimmt (die kann nicht selbstständig abgebaut werden) und Enzyme zugefügt werden. „Das hat auch gut geholfen, aber wir mussten die Studie nach eineinhalb Jahren abbrechen, weil die Fahrerei für Chiara zu stressig wurde“, so Sebastian Köhler.
Mit Voranschreiten der Krankheit schwand das Sprechvermögen und auch das Schlucken, sodass Chiara mittlerweile über eine Sonde ernährt werden muss. Sie hat Spastiken entwickelt, kann aber noch Lächeln und auf ihre Eltern reagieren. Im weiteren Verlauf werden sich die neurologischen Probleme allerdings verschlimmern und in der Regel tödlich enden.
Kind soll „normaler“ Alltag ermöglicht werden
Denn es gibt keine Heilung für MDL und Kinder erreichen nicht mal das Erwachsenenalter. Die Behandlung konzentriert sich auf unterstützende Pflege und Symptommanagement. Das heißt für Mutter Ramona, dass ihr Tag um 5 Uhr morgens beginnt und gegen 22 Uhr endet. Teilweise im halbstündigen Takt arbeitet sie eine Liste mit Medikamenten- und Essensgabe ab.
Eine große Unterstützung erfährt sie durch ihre Eltern und ihren Mann, der allerdings auch seinem Vollzeitjob nachgeht. Gelegentlich kommt eine Pflegekraft zur Unterstützung vorbei, damit Ramona Köhler Entlastung bekommt und sich auch um andere angefallene Dinge kümmern kann. Daneben versuchen Chiaras Eltern ihrer Tochter einen „normalen“ Alltag zu ermöglichen. Stundenweise besucht sie den Kindergarten, sie gehen einkaufen und richten Ausflüge zum Beispiel in den Tiergarten ein. Zeitweise besucht Mutter Ramona mit Chiara eine Einrichtung in Bad Bederkesa, die Kindern und Familien in medizinischen, sozialen und emotionalen Notlagen ein Zuhause auf Zeit gibt. Ein Problem gibt es da allerdings: „Das Auto ist zu klein. Wir brauchen ein größeres mit einer Rampe, um den Rollstuhl auch transportieren zu können“, erklärt Sebastian Köhler.
Trotz ihres Schicksalsschlags gibt die Familie nicht auf: „Wir sind noch enger zusammengewachsen. Die kleine Maus weiß ja auch gar nicht, was los ist. Sie zeigt Stärke und gibt uns viel Kraft. Wir sind hoffnungsvoll und geben nicht auf“, sagt Ramona Köhler tapfer.