TVom Alarm bis zum nächsten Morgen: Chronologie des Feuerinfernos

Den Einsatzkräften bot sich ein Bild wie aus der Apokalypse. Foto: Vasel
Ein Großbrand vernichtet in der Nacht zu Donnerstag eine mehr als 200 Jahre alte Hofstelle in Dollern. Rekonstruktion einer Nacht voller Heldenmut und Solidarität.
Dollern. Vor den Ruinen der Hofstelle bespricht sich Horneburgs Samtgemeindebürgermeister Knut Willenbockel mit Dollerns Ortsbrandmeister Manuel Buuck und Fachbereichsleiterin Tanja Thomfohrde, als um 9.19 Uhr sein Mobiltelefon klingelt, der Hauseigentümer ist dran. Keiner möchte jetzt in Willenbockels Haut stecken. Bisher hat der Eigentümer sich noch nicht gemeldet, er ist im Urlaub - knapp 1000 Kilometer entfernt in den Berchtesgadener Alpen.

Das Großfeuer wütet in der Dorfstraße 11. Foto: Vasel
Willenbockel geht mit dem Telefon diskret um die Ecke. Zum Glück muss er die Hiobsbotschaft doch nicht selbst überbringen, das hat die Kriminalpolizei schon erledigt. Sie hatte den Hauseigentümer in der Nacht aus dem Bett geklingelt und ihm berichtet, was geschehen ist.
Imker rettet Häuser und Nachbarn vor den Flammen
Rückblick: Gegen 0.20 Uhr bemerkt der Imker Uwe Edeler, der auf dem Sofa im Wohnzimmer eingenickt ist, einen Feuerschein aus der Nachbarschaft. Auch seine Frau Anja wird wach. Edeler blickt auf ein Flammenmeer. Das Reetdach-Hallenhaus gegenüber brennt, ein Regen aus Funken und glühendem Reet geht nieder.
Edeler stürmt aus dem Haus und warnt die in ihren Betten schlafende fünfköpfige Familie, die im ebenfalls reetgedeckten Gebäude neben dem Hallenhaus wohnt. Danach läuft er weiter zu seinen unmittelbaren Nachbarn. Die Eltern und ihre drei Kinder setzten sich sofort ins Auto und fahren weg.

Das Wohnhaus der Familie ist in Vollbrand. Foto: Vasel
Um 0.24 Uhr laufen die Telefone in der Feuerwehr- und Rettungsleitstelle in Stade-Wiepenkathen heiß. Vier Disponenten nehmen acht Anrufe entgegen. Sie alarmieren die ersten Kräfte. Vier Minuten später ist klar: Es ist ein Großfeuer.
Flammen an vielen Orten im Kreis zu sehen
Ein bedeutendes Wohn- und Wirtschaftsgebäude von 1793 steht in Vollbrand. Auf der Hofstelle Stüven wütet bereits ein Feuersturm. Die Ortsfeuerwehren Dollern, Horneburg, Agathenburg und Bliedersdorf rücken aus - unterstützt von Feuerwehrleuten aus Hedendorf, Stade, Guderhandviertel, Issendorf sowie Kräften der Kreisfeuerwehrbereitschaft, der DLRG und Notfallsanitätern des DRK.
Die Flammen sind weithin im Alten Land, auf der Geest und in Buxtehude, Stade und Kehdingen zu sehen. In Dollern heulen die Sirenen.
Die Hitze ist enorm. Fenster der ehemaligen Sparkasse gegenüber, jetzt eine Physiotherapiepraxis, platzen. Nebenan steht Klaus Tamcke und seiner Tochter Lisa die Angst ins Gesicht geschrieben: Rund um ihr reetgedecktes Zweiständerhaus von 1793/1850 fliegen Funken, brennende Reetklumpen prasseln vom Himmel - nicht nur hier, sondern auch in weiter Entfernung, selbst auf der A26.

Ein mobiler Wasserspeicher wird auf der B73 aufgebaut. Foto: Vasel
Gemeindebrandmeister Torben Schulze und sein Vize Nils Bründel treffen mit den ersten Tanklöschfahrzeugen ein - wenige Minuten nach der ersten Alarmierung. In Windeseile verlegen die Feuerwehrleute ihre Schläuche, kilometerlang. Auch der Buschteich wird angezapft, ein mobiler Speicher auf der voll gesperrten B73 aufgebaut. Feuerwehrmann Mirko Bartsch prüft den Füllstand: „10.000 Liter.“

Drehleiter im Einsatz. Foto: Vasel
Luft ist rauchgeschwängert
Unter Atemschutz bekämpfen die Feuerwehrleute die Flammen. Es sind Bilder wie aus der Apokalypse. Immer wieder fällt brennendes Reet auf Jacken und Helme der 210 Einsatzkräfte. Elektro-Blitze leuchten in der Feuerhölle auf, die Luft ist rauchgeschwängert.
Ein Feuerwehrmann erleidet leichte Brandverletzungen. Zwei Drehleitern und einige Wasserwerfer kommen zum Einsatz. Sicherheitshalber beordert der Feuerwehrmann und Technische Leiter des Trinkwasserverbands, Jens Westphal, den Wassermeister ins Dollerner Werk. Die Wasserversorgung steht - abgesehen von wenigen Schrecksekunden nach einem Druckabfall, der beim gleichzeitigen Anzapfen mehrerer Hydranten normal ist.

Feuerwehrleute beim Großfeuer in Dollern. Foto: Vasel
Landwirt Klaus Tamcke fürchtet mit seiner Familie um sein Reetdachhaus. Vier Mal droht es in dieser Nacht in Brand zu geraten. Einige Stunden später - auch die angekokelte Scheune wird von Einsatzkräften gerettet - kommt er zur Ruhe. „Die Feuerwehrleute haben in dieser Nacht Unglaubliches geleistet“, sagt Tamcke.
Reetdächer werden unter Wasser gesetzt
Der stellvertretende Kreisbrandmeister Thorsten Hellwege verschafft sich vor Ort ein Bild. Er und Zugführer Stephan Hundsdörfer aus Stade sind zuversichtlich: „Wir werden die umliegenden Häuser halten können.“ Reetdächer werden unter Wasser gesetzt.
Das Übergreifen des Feuers auf das kleine und das große Wohnhaus auf der Hofstelle konnten sie - nur fünf Minuten nach der Großfeuer-Depesche - aber nicht mehr verhindern. Durch ihr beherztes Eingreifen retten sie die Häuser in der Nachbarschaft, unter ihnen teils reetgedeckte 14 Denkmale aus der Zeit nach dem Großen Brand vom April 1793.

Die Tatortgruppe der Polizei ist vor Ort. Foto: Vasel
Um 1.30 Uhr gehen die Melder der Frauen und Männer der DLRG Horneburg/Altes Land. Wenige Minuten später bauen sie Lichtmasten und Zelte auf. Familie Wichern schließt ihre Shell-Tankstelle an der B73 auf. DLRG-Kräfte wie Robert Rink füllen unaufhörlich Diesel-Kanister, um die Tanks der Feuerwehrfahrzeuge und Pumpen zu füllen.
Die Tatortgruppe befragt erste Zeugen und macht Fotos. Brandermittler der Polizeiinspektion Stade werden die Ruine in den nächsten Tagen untersuchen. „Die Ursache ist noch offen“, sagt ein Beamter dem TAGEBLATT.

Drehleiter im Einsatz. Foto: Vasel
Um 5 Uhr ist Groot Dör längst verbrannt
In der Dorfstraße wird der Abrollbehälter Atemschutz aufgestellt - Nachschub für die Einsatzkräfte. Einige sitzen erschöpft am Boden. Nachbarn und Kameraden bringen Getränke. Um 2.42 Uhr ist vom Dach des mehr als 200 Jahre alten Zweiständerhauses nichts mehr zu sehen.
Ein verkohltes Gerippe aus mächtigen Balken steht im Stallbereich. Es raucht kräftig. Straße und Fußweg sind unter einer dichten Schicht aus Löschwasser und schwarzem Reet verschwunden.
Um 5 Uhr steht der untere Teil des straßenseitigen Giebels noch. Die Groot Dör ist längst verbrannt, wenig später stürzt auch dieser Teil ein. Kurz vor sechs kann ein Großteil der Schläuche eingerollt werden. Doch für die Dollerner Feuerwehrleute wie den Maschinisten Stefan Vogel ist der Einsatz noch lange nicht zu Ende. Immer wieder flackern Brandnester auf - Wasser marsch. Mit Einreißhaken reißen sie das kokelnde Glut-Reet heraus.

Lagebesprechung von Ordnungsamt und Feuerwehr mit Samtgemeindebürgermeister Knut Willenbockel (links). Foto: Vasel
Das Erdbauunternehmen Alpers hilft beim Ablöschen, ein Bagger kommt zum Einsatz. Gegen 9 Uhr bespricht sich Willenbockel mit seinem Team: Die Straße muss gereinigt werden, die Hofstelle werden Bauhofleiter Rainer Rambow und sein Team mit Zäunen sichern. Die Türen der Wohngebäude werden versiegelt. Im Keller des Wohnhauses der fünfköpfigen Familie wird das kniehoch stehende Wasser abgepumpt. „Vielleich sind noch einige Fotos zu retten“, sagt Ortsbrandmeister Manuel Buuck.

Sie sammeln Spenden: Kita-Leiter Christopher Schatzki, Lisa Tamcke und Michelle Luther (von links). Foto: Spendenaktion
Die Eltern, 38 und 36 Jahre alt, sind noch in der Nacht mit drei Kindern im Kita- und Schulalter bei Verwandten im Alten Land untergekommen. Sie haben alles verloren. Doch ihre Freunde, Bekannten und Nachbarn lassen sie nicht im Stich: Sie starten eine Spendenaktion, sammeln im Kindergarten Kleidung.
Spendenaufruf gestartet
„Ein ganzer Ort steht unter Schock. Der Zusammenhalt ist der Wahnsinn“, sagen die Mitorganisatorinnen Michelle Luther, Lisa Tamcke und Janina Brandmähl, die Online-Spendensammelaktionen gestartet und in ihren Netzwerken getrommelt haben.

Lisa Tamcke und ihr Team loben die Feuerwehr, ihr Reetdachhaus wurde gerettet. Foto: Vasel
Schon am Donnerstagmittag waren 10.000 Euro eingegangen. „Das klingt viel, ist aber nichts im Vergleich zu dem, was sie verloren haben - praktisch alles“, sagt Michelle Luther. Wer nicht online spenden möchte, kann auch einen Obolus bei der Dollerner DRK-Kita abgeben. Wer online spenden möchte, kann das bei gofundme.com unter „Hilfe nach Hausbrand“.

Das Feuer ist bezwungen. Foto: Vasel