TTrockene Alkoholiker: „Ich habe meiner Familie viel Leid zugefügt“

Das Harsefelder Ehepaar Brunhilde und Herbert Wegner geht offen mit seiner Alkoholsucht um. Foto: Laudien
Vom Schnaps auf der Konfirmation bis zum Koma-Trinken - Brunhilde und Herbert Wegner aus Harsefeld kennen die Folgen der Alkoholsucht. Und sie sprechen offen darüber.
Harsefeld. Auf dem Schild am Harsefelder Familieninformationszentrum stehen noch ihre Namen und die Öffnungszeiten. Nach 25 Jahren gaben Brunhilde und Herbert Wegner ihre Tätigkeit als Suchtberater, unter anderem für den Verein für Sozialmedizin Stade, aus gesundheitlichen Gründen auf. Ihr Dank gilt der Gemeinde Harsefeld für die Nutzung der Räumlichkeiten, um anderen helfen zu können. Künftig trifft sich dort eine Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker freitags von 19.30 bis 21 Uhr.
Sie begleiteten viele auf dem Weg aus der Sucht
Viele Menschen haben sie auf dem schwierigen Weg aus der Sucht begleitet - auch am Elbe Klinikum, in Spezialkliniken sowie in Schulen durch Vorträge. Das Spektrum reichte von Suchtmotivationsgruppen über Krisenintervention bis zu Gruppengesprächen. Zeugnisse, Qualifikationen und Empfehlungen zeugen von ihrer Kompetenz als ehrenamtliche Suchtberater.

Im Harsefelder Familieninformationszentrum befindet sich weiterhin eine Stelle für eine Selbsthilfegruppe, die sich jetzt freitags von 19.30 bis 21 Uhr trifft. Foto: Laudien
Doch kaum einer weiß, welches schwere Schicksal das Harsefelder Ehepaar seit frühester Jugend selber durchlitten hat: „Wir sind Alkoholiker - aber inzwischen trocken“, sagt der 78-jährige Wegner. Mehrfach stand sein Leben auf der Kippe. Wie es dazu kam?
Bereits bei seiner Konfirmation sei viel getrunken worden. Nach Ausbildung zum Kfz-Mechaniker und Wehrpflicht ging er zum Hamburger Flugzeugbau, heute Airbus, war auch im Betriebsrat. Auch am Arbeitsplatz wurde viel getrunken, erzählt Wegner. Schließlich sei er aufgefallen. „Entweder hörst du auf zu trinken oder du musst gehen, hat mein damaliger Chef zu mir gesagt.“ Lange Zeit habe er sich nicht als Alkoholiker gesehen, aber dann nicht mehr den Absprung geschafft. Vierzehn Tage nach der ersten Entgiftungstherapie wurde er rückfällig.
Nach Ehe-Aus: Koma-Trinken mit Wodka und Korn
Nach Feierabend und am Wochenende habe er mit Nachbarn regelmäßig getrunken, sei torkelnd auf der Straße umgekippt und der Rettungswagen ist gekommen. „Das war mir alles sehr peinlich, hat mich aber nicht vom Trinken abgehalten.“ Seine damalige Frau trennte sich nach der Silberhochzeit von ihm. Zum Abschied schrieb sie: Ich kann es nicht mehr mit ansehen, wie du dich zu Tode trinkst. „Ich habe meiner Familie durch meine Sucht viel Leid zugefügt. Meine einzige Tochter möchte bis heute keinen Kontakt zu mir“, erzählt Wegner.
Nach der Trennung sei er dem Koma-Trinken verfallen. „Eine halbe Kiste Bier am Tag und ein bis zwei Flaschen Wodka oder Korn waren Satz.“ Nach erneuter Entgiftung besuchte er etliche Selbsthilfegruppen für Anonyme Alkoholiker zwischen Wischhafen und Harburg. „Allein schon als Ablenkung, weil meine Gedanken ständig um Alkohol kreisten.“
Als Zwölfjährige schon Alkohol getrunken
Seine heutige Ehefrau Brunhilde hat Wegner im Krankenhaus während ihrer Therapie kennengelernt. Sie hat ein ähnliches Schicksal als Alkoholikerin durchlitten, stammt aus einem zerrütteten Elternhaus und wuchs bei ihrem Vater auf. „Wenn Papa trank, war er viel zugänglicher, habe ich schon als Kind gemerkt.“
Mit zwölf Jahren griff sie selber zum Alkohol. „Dann war alles leichter zu ertragen“, erklärt die 64-Jährige. Als junge Frau arbeitete sie als Erzieherin im Kindergarten. Dort fiel ihr Alkoholkonsum auf. „Die Kinder haben es zuerst gemerkt und sagten, du riechst immer so komisch.“ Brunhilde ist ebenfalls geschieden und hat drei Kinder. „Eine Langzeittherapie aus der Sucht war für mich schließlich goldrichtig.“
Telefonaktion
T Alkoholkonsum: So wird man „trocken“
Ratgeber Gesundheit
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Eine schonungslose Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, ohne sich zu belügen, sowie Therapien und Sebsthilfegruppen waren für beide die Schlüssel aus der Sucht. Dennoch bleibt die Alkoholsucht ihr großer Feind, der viel Geld kostete, Ehen, Existenz und Gesundheit zerstörte. Selbst wenn sie heute trocken sind, ist das Ehepaar von seiner langjährigen Alkoholsucht durch körperliche und psychische Folgen gezeichnet: Sie leidet unter Depressionen, er hat Tinnitus, Rheuma und Epilepsie.
Als er im Delirium Ameisen gesehen hat
„Wir sind für jeden Tag dankbar, an dem wir nicht mehr trinken“, sagen sie. Das Schwierigste sei, sich einzugestehen, dass man süchtig ist. Dazu gehört die Frage: Ab wann bin ich abhängig? „Wenn man jeden Abend trinken muss und das Bier nicht stehen lassen kann, sollte man sich überlegen, ob etwas verkehrt läuft“, sagt Wegner. „Ich habe Nachbarn bepöbelt und im Delirium Ameisen gesehen, die mich auffressen - und im Krankenhaus viele Leute kennengelernt, die sich zu Tode getrunken haben.“
Fast acht Millionen trinken zu viel Alkohol
Laut Statistik 2024 der deutschen Hauptstelle für Suchtfragen konsumieren 7,9 Millionen der 18- bis 64-Jährigen Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Durchschnittlich werden pro Kopf jährlich 10,6 Liter reinen Alkohols konsumiert.
Hilfe gibt es bei Kliniken, Krankenkassen und Selbsthilfegruppen sowie bei der Fachstelle für Sucht und Suchtprävention Stade.

Im Familieninformationszentrum in Harsefeld haben Brunhilde und Herbert Wegner viele Jahre bei Suchterkrankungen geholfen. Foto: Laudien