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24-Stunden-Reportage

TWenn Eltern versagen: Harsefelder Wohngruppe ist ihr neues Zuhause

Sie sind wie Geschwister: Am liebsten toben die Kinder der Harsefelder Wohngruppe zusammen auf dem Trampolin.

Sie sind wie Geschwister: Am liebsten toben die Kinder der Harsefelder Wohngruppe zusammen auf dem Trampolin. Foto: Fehlbus

Schichtwechsel bei den Pädagogen: Nach 24 Stunden kommt die Ablösung. Es ist einer der wenigen Momente, der zeigt, dass dies keine normale Familie mitten in Harsefeld ist.

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Von Miriam Fehlbus
Donnerstag, 17.07.2025, 22:37 Uhr

Harsefeld. Es ist 10 Uhr. Gleich endet ein 24-Stunden-Dienst in der Wohngruppe der Caritas in Harsefeld. Sozialpädagogin Manuela* übergibt an den nächsten Kollegen. Um 11 Uhr wird er da sein und mit ihr über den vergangenen Tag mit sechs Kindern zwischen vier und elf Jahren sprechen, die hier dauerhaft wohnen. Die Kinder wurden aus ihren Familien genommen, weil es nicht mehr anders ging. In manchen Situationen ist der Eingriff des Jugendamts lebensrettend. Bei dem Übergabegespräch in Harsefeld geht es heute aber um ganz alltägliche Dinge wie die Frage: Wer ist mit Wäschewaschen dran?

Wenn es nicht anders geht: Raus aus der Familie

Ellie* (*Namen von der Redaktion geändert) muss heute die Waschmaschine befüllen und später beim Ausräumen helfen. Ihr Wäschekorb ist voll. Auch den Tisch zu decken und Staub zu saugen gehört zu den Aufgaben der Kinder. Es geht darum, eine möglichst realistische Familiensituation zu schaffen, wie in einer Art Großfamilie.

Christine Laabs ist für das Personal zuständig. Es ist eine besondere Aufgabe, eine Wohngruppe über 24 Stunden am Stück zu begleiten, weiß die Caritas-Geschäftsführerin für die Landkreise Rotenburg und Stade.

Christine Laabs ist für das Personal zuständig. Es ist eine besondere Aufgabe, eine Wohngruppe über 24 Stunden am Stück zu begleiten, weiß die Caritas-Geschäftsführerin für die Landkreise Rotenburg und Stade. Foto: Fehlbus

Die sechs Kinder, die in der Wohngruppe in Harsefeld leben, haben dabei meist noch Eltern, die aber aus verschiedenen Gründen nicht ausreichend für sie da sind. Es gibt zwar regelmäßig Kontakt zu ihnen, jedoch auch die gerichtlich abgesicherte Entscheidung, nicht länger für das Zuhause ihrer Kinder zuständig zu sein. „Das Jugendamt stellt fest, hier geht es nicht mehr: Die Kinder müssen fremd untergebracht werden“, erklärt Christine Laabs. Sie ist Geschäftsführerin des Caritas-Verbands für die Landkreise Rotenburg und Stade.

Treffen mit den Eltern finden weiter statt

Die Gründe für die Unterbringung in einer Wohngruppe können ganz unterschiedlich sein. Vernachlässigung der Kinder, häusliche Gewalt und Überforderung der Eltern in der Alltagssituation sind die häufigsten. „Und aus Sicht der Eltern schwierige Kinder“, sagt Laabs. Ein wichtiger Punkt ist, dass die Eltern präsent bleiben: „Wir freuen uns über gute Zusammenarbeit und regelmäßige Kontakte.“

Am Anfang ist die Trennung schmerzhaft für alle Betroffenen. Die Kinder kämen aber mit dem Wechsel in die neue Situation in der Regel gut zurecht, das ist auch die Erfahrung der acht Mitarbeiter beziehungsweise Mitarbeiterinnen in Harsefeld. Für die Besuchssituationen und den erneuten Abschied brauche es mitunter etwas Durchhaltevermögen, bis sich alles eingespielt hat, sagt Christine Laabs.

In den Ferien geht es in den Urlaub ans Meer

Um die Ruhe in der Wohngruppe nicht zu gefährden, sind die Namen aller Kinder hier verändert. Es sind reale Lebensgeschichten, die in Harsefeld eine Wendung zum Guten erfahren. Zwei Kinder besuchen die Kita, vier die Schule. Gerade sind Sommerferien. Deshalb ist auch vormittags schon ordentlich was los.

Wenn Niklas* von seinem schönsten Erlebnis erzählt, dann kommt ein Stück Zukunft darin vor: der Urlaub. In diesen Ferien werden die Kinder gemeinsam mit Pädagogen nach Cuxhaven fahren, ans Meer. Strand, Spaß, Eis und Glück: Dass sie für eine Woche gemeinsam Sommerurlaub machen, ist alles andere als selbstverständlich. „Für einige ist das Urlaubserlebnis komplett neu“, sagt Christine Laabs, und dabei kommt es auch auf den Punkt des unbeschwerten Erlebens an.

„Wir passen aufeinander auf, sind füreinander da“

Die Wohngruppe in Harsefeld ist deshalb etwas Besonderes, weil hier sehr junge Kinder, zum Teil mit Geschwistern zusammen, leben. Es ist keine Jugend-WG, keine Pflegefamilie. Die sechs Kinder sind sich selbst eine eigene kleine Familie. Und das ist nach zum Teil nur wenigen Monaten in der Gemeinschaft schon offensichtlich.

Sommerferien bedeuten in der Wohngruppe in Harsefeld: Grillen, Eis essen und eine Woche zusammen Urlaub am Meer machen.

Sommerferien bedeuten in der Wohngruppe in Harsefeld: Grillen, Eis essen und eine Woche zusammen Urlaub am Meer machen. Foto: Fehlbus

„Wir passen aufeinander auf, sind füreinander da“, sagt eines der Mädchen. „Sie können sich aber auch gut ärgern“, ergänzt Pädagogin Manuela mit einem Augenzwinkern. Wie echte Geschwister eben.

Im Oktober 2024 ist das Projekt in einem Einfamilienhaus in Harsefeld gestartet. Seit April ist die Gruppe voll belegt. Das Jugendamt kommt für die Unterbringung auf. Dinge darüber hinaus müssen mit Spenden bezahlt werden.

Harsefelds Glücksschweinchen helfen

Harsefeld hatte sich beim TAGEBLATT-Glücksschweinchen-Verkauf dafür entschieden, die Einnahmen der Wohngruppe zur Verfügung zu stellen. Ein Trampolin, eine Sandkiste und ein Spielgerät mit Reckstange sind dafür gekauft worden. Das Trampolin ist im Sommer zum neuen Garten-Mittelpunkt geworden: „Kein Tag vergeht, an dem sie nicht dort zusammen toben oder spielen“, weiß Christine Laabs.

Dass der Bedarf für weitere Wohngruppen dieser Art da ist, lässt Christine Laabs manchmal nachdenklich werden. Für sie sind Probleme in Familien aus beruflichen Gründen zwar Alltag. Und trotzdem ist da auch immer wieder die Frage: Wieso sind es so viele?

Seit Corona verdreifachter Bedarf

„Wir bekommen sehr regelmäßig Anfragen vom Jugendamt“, sagt die 37-Jährige. Ein Punkt, der viel verändert zu haben scheint, ist Corona. „In den Jahren seit 2022 haben sich die Anfragen verdreifacht“, sagt Christine Laabs.

Es gibt Eis am Stiel auf dem Rasen. Kleine Kinderhände greifen nach den bunten Verpackungen. Lachen und helle Stimmen entfernen sich in den hinteren Gartenteil. Gleich kommt der Wechsel bei den Menschen, die ihnen nicht nur das Gefühl einer Familie zurückgeben, sondern auch auf die wichtigen Themen Erziehung und unsichtbare Narben auf der Psyche eingehen.

Immer willkommen: Übernachtungsgäste der Kinder

Für Caritas-Mitarbeiterin Manuela ist nach 24 Stunden Dienst im Harsefelder Haus erst einmal Freizeit angesagt. Zwei freie Tage liegen dazwischen, bevor sie wieder zur Arbeit kommt. „Wir passen das an, wie die Pädagogen es brauchen“, sagt Christine Laabs. Tagsüber gibt es Verstärkung durch Tagschichten.

Es klingelt. Mit dem neuen Kollegen kommt nicht nur ein Erwachsener in den Garten, auch ein weiteres Kind. „Freunde der Kinder übernachten bei uns, oder die Kinder übernachten woanders“, erklärt Christine Laabs, selbst Sozialpädagogin und seit 2021 in der Caritas-Leitung. Bei den Eltern in Harsefeld erlebten sie großes Entgegenkommen. Das neue Zuhause für Kinder ohne glückliches Zuhause liegt mitten drin in dem Geestort - und erfüllt seine Aufgaben mitten in der Gesellschaft.

*Name von der Redaktion geändert.

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