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Lehrerversorgung

TWenn die Krankheitswelle auf ein krankes Bildungssystem trifft

An den Schulen im Landkreis Stade fällt viel Unterricht aus. Schüler müssen immer öfter zu Hause bleiben.

An den Schulen im Landkreis Stade fällt viel Unterricht aus. Schüler müssen immer öfter zu Hause bleiben. Foto: Caroline Seidel/dpa

Aktuell fällt an den Schulen im Kreis viel Unterricht aus. Krank sind nicht nur viele Lehrkräfte, sondern wohl auch das System: Der Personalmangel ist längst Dauerzustand. Eltern, Lehrkräfte und Schulen haben Ideen, wie dem Patienten zu helfen wäre.

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Von Karsten Wisser,
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Von Anping Richter
Dienstag, 19.12.2023, 19:34 Uhr

Landkreis. Manche Klassen sind wieder im Homeschooling, die Schüler lernen zu Hause. Wie berichtet, musste die Grundschule am Stieglitzweg in Buxtehude vergangene Woche sogar zwei Tage lang ganz schließen. Doch die Krankheitswelle macht eine Lage, die ohnehin nicht gut ist, zurzeit nur besonders sichtbar.

„Die Situation an den Schulen ist gruselig und es wird immer schlimmer“, sagt Daniela Viets-Peters vom Vorstand des Kreiselternrats. Der ist in vielen Schulen gut vernetzt. Eine Schulleiterin, die nicht genannt werden möchte, habe berichtet, dass sie auf eine ausgeschriebene Stelle keine einzige Bewerbung bekam. Dass das kein Einzelfall ist, bestätigt das Regionale Landesamt für Schule und Bildung (RLSB) in Lüneburg. „Das ist die Grundproblematik. Die Bewerberlage ist wirklich schlecht“, sagt Pressesprecherin Mareike Wellmeier.

Kreative Lösungen sichern den Schulalltag

Es gibt fast keine Schule, die die vergangenen Monate gut überstanden hat. Eine Anfrage an den Buxtehuder Stadtelternrat brachte innerhalb kurzer Zeit viele Unterrichtsausfälle ans Licht. Beispiel Integrierte Gesamtschule Buxtehude: Generell hat die IGS nach TAGEBLATT-Informationen eine Unterrichtsversorgung von unter 90 Prozent, das heißt, dass jede achte Stunde per se ausfällt.

Dennoch schafft es die IGS aus Sicht der Elternvertreter, mit kreativen Lösungen einen möglichst normalen Schulalltag zu gewährleisten und Ausfälle zu vermeiden. Bei einem Krankenstand von bis zu 30 Prozent kein leichtes Unterfangen.

Eine Lehrkraft für drei Klassen im Hörsaal

Teils werden drei Klassen von einer Lehrkraft betreut, der „Unterricht“ wird in den Hörsaal verlegt, damit die Aufsichtspflicht gesichert ist. Trotzdem müssen immer wieder Klassen nach Hause geschickt werden. „Wir brauchen ein Gremium, in dem alle Beteiligten an einem Tisch über die Probleme reden“, sagt Marc Höper, Vorsitzender des Stadtelternrats Buxtehude.

Die unterschiedlichen Zuständigkeiten bremsen das System zusätzlich aus und machen es intransparent. Das Land stellt die Lehrer, die Stadt die Gebäude und Schulpersonal. Mittendrin sitzen die Schulleitungen, die den Mangel verwalten müssen.

Versorgung im Land extrem schlecht

Dass Deutschlands Schüler noch nie so schlecht abgeschnitten haben wie in der jüngsten Pisa-Studie, machte Anfang Dezember Schlagzeilen. In Niedersachsen ist die Unterrichtsversorgung mit 96,3 Prozent so schlecht wie noch nie seit Beginn der Erfassung vor 20 Jahren.

Die Zahlen, die das RLSB dazu herausgibt, sind auf einer interaktiven Karte schulgenau abrufbar (zur Karte). Sie stammen aber vom 8. September 2022. Die Zahlen der letzten Erhebung vom 30. August 2023 werden erst im Februar herausgegeben.

Warum das so lange dauert? Laut RLSB, weil sie gründlich geprüft werden. Im laufenden Geschäft behelfe man sich mit Schätzwerten und reagiere flexibel, beispielsweise durch Versetzungen oder Stundenerhöhung von Teilzeitkräften.

Lehrer leisten Überstunden, um Ausfälle zu kompensieren

Wie das in der Praxis aussieht, zeigt eine Anfrage beim Vincent-Lübeck-Gymnasium (Unterrichtsversorgung laut RSLB: 91,9 Prozent) in Stade: In den letzten Jahren haben viele Lehrkräfte, die vorher in Teilzeit gearbeitet haben, ihre Stunden erhöht. Viele leisten Überstunden, um Ausfälle zu kompensieren.

„Das Engagement des Kollegiums ist beachtlich und vieles wird durch Lösungen im Haus ermöglicht - aber irgendwann ist bei der Mehrarbeit eine Grenze erreicht“, sagt Schulleiter Rouven Wauschkies. Insgesamt sei die Unterrichtsversorgung am VLG nur weitgehend sichergestellt, weil die Schule sieben abgeordnete Lehrkräfte von fünf anderen Schulen erhält.

Kritik der GEW: 100 Prozent sind gar nicht 100 Prozent

Der Bedarf von 100 Prozent wird laut RLSB so berechnet, dass neben dem Pflichtunterricht auch Stunden für Zusatzbedarfe wie Ganztagsangebote oder Sprachförderung einberechnet werden. Ein Wert unter 100 Prozent bedeute nicht automatisch, dass Unterricht ausfällt. Wann der Pflichtunterricht rechnerisch nicht mehr gesichert ist, lasse sich nicht pauschal beantworten, sondern sei von Schule zu Schule unterschiedlich.

„Um eine 100-prozentige Unterrichtsversorgung zu erreichen, wären sogar 107 Prozent nötig“, widerspricht Karina Krell vom Kreisverband der GEW. Denn Krankheitszeiten und Fortbildungen seien nicht mit eingerechnet.

Lehrkräftemangel wird sich fortsetzen

Aktuell fehlen in Niedersachsen laut einer Studie der GEW 8000 Lehrkräfte und 3000 weitere Schulbeschäftigte. In dieser desolaten Situation konnten 2023 nur 1420 Stellen neu besetzt werden, im Vorjahr waren es immerhin noch 1620. In den Studienseminaren gibt es laut Krell in diesem Jahr auch weniger Lehrkräfte in Ausbildung: 4280 waren es 2021, 2023 sind es nur 3630. „Die werden uns für die nächsten Runden fehlen“, sagt sie.

Quereinsteiger einzustellen, könnte helfen, denkt Daniela Viets-Peters vom Kreiselternrat: „Viele sehen das kritisch, weil die pädagogische Qualifikation fehlt. Aber warum sollte jemand, der Lust dazu und das nötige Wissen hat, das nicht machen? Besser als gar kein Unterricht.“

Eine berufsbegleitende pädagogische Qualifizierung, damit Quereinsteiger gleichwertig mit ihren Lehramts-Kollegen eingruppiert werden können, sei eine gute Idee gewesen, sagt Karina Krell. Doch die dafür zur Verfügung gestellten 20 Plätze seien nicht einmal voll geworden. Die Angebote müssten bekannter, breiter und attraktiver werden. „Jahrzehntelang wurde sehenden Auges zugelassen, dass sich diese Situation entwickelt“, sagt sie. Nun sei es schwierig, kurzfristig Abhilfe zu schaffen, besonders im ländlichen Bereich.

Elternvertreter wollen mehr soziale Kompetenz in die Schulen holen

„Das System ist am Rande der Belastbarkeit“, sagen auch Sara Baumgardt und Christian Häckl, Elternvertreter der IGS Stade (Unterrichtsversorgung: 92,5 Prozent). Sara Baumgardt war auf einer Konferenz für Elternvertretungen in Niedersachsen. „Die Probleme sind überall gleich“, berichtet sie.

Lehrkräftemangel, Inklusion, Integration, eine Entschlackung der Curricula (Lehrpläne) - all das greife ineinander und es fange schon in den Kitas an. Nachwirkungen der Corona-Pandemie seien auch bei den Jüngsten zu merken: Es fehle oft an Grundkompetenzen wie zuhören, sich an Regeln halten, abwarten. Mehr soziale Kompetenz in die Schulen zu holen, ist ein Vorschlag, von dem sich Sara Baumgardt und Christian Häckl viel versprechen.

Henne-Ei-Problem und pragmatische Lösungen

Multiprofessionelle Teams könnten Lehrkräfte und Schüler entlasten. Auch eine Konzentration auf Methoden statt starrer Lehrpläne, mehr Flexibilität und ein „atmendes System“ könnten Stress für alle Beteiligten reduzieren. Die IGS sei da bereits auf dem richtigen Weg.

„Sonst werden viele Probleme mitgeschleift, die Schüler vom Lernen abhalten“, sagt Häckl. Er räumt ein, dass es ein Henne-Ei-Problem gibt: Schlechte Arbeitsbedingungen führen zu weniger Anwärtern in der Lehrerausbildung, und auch in anderen pädagogisch-sozialen Berufen herrsche Fachkräftemangel.

Sara Baumgardt hat trotz der Misere ein Lob für Kultusministerin Julia Willie Hamburg: „Sie benennt klar, dass wir einen Mangel haben und sagt: Wir werden die Stellen nicht besetzen können. Davor haben sich viele ihrer Vorgänger gedrückt.“

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