TZeugen Jehovas: Aussteigerin kämpft sich zurück ins Leben

Die 52-jährige Cuxhavenerin Miriam Sassen hat 2018 ihren Austritt bei den Zeugen Jehovas erklärt und diese Entscheidung bis heute nicht bereut. Foto: Rohde
Schläge, Isolation und strenge Regeln: Miriam Sassen berichtet von ihrer Kindheit bei den Zeugen Jehovas und dem schweren Weg in die Freiheit.
Cuxhaven. Zeugen Jehovas feiern weder Weihnachten, noch Ostern und auch keine Geburtstage. Diese Feste seien „Götzendienst“, weil sie auf heidnischen Wurzeln beruhen würden. Ihre wichtigste Zusammenkunft ist das Abendmahl. „Wir waren Außenseiter in der Schule, richtige Aliens. Außerhalb der Gemeinschaft hatten wir so gut wie keine Freunde“, sagt Miriam Sassen. Bei Einladungen zu Geburtstagen musste sie sich Ausreden einfallen lassen.
Strenge Regeln, ständige Überwachung und andauerndes Misstrauen
Miriam Sassen wurde in eine Familie von Zeugen Jehovas in Berlin hineingeboren. „Sie sind alle Hardcore. Aber ich kannte nichts anderes.“ Sie lebte mit strengen Regeln, unter ständiger Überwachung und andauerndem Misstrauen. Die Erziehung war streng, Schläge waren an der Tagesordnung. Dreimal pro Woche war Zusammenkunft. Flog Fehlverhalten auf - zum Beispiel Rauchen, Alkoholgenuss oder außerehelicher Sex - ging es vor den Ältestenrat. Es folgte eine demütigende Befragung, gefolgt von der Bloßstellung vor versammelter Gemeinde. Die Verteilung der Zeitschriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet!“, also die Missionsarbeit oder Bekehrung, ist Pflicht für jedes Gemeindemitglied.
Die Strukturen in den Gemeinden sind hierarchisch, autoritär, patriarchalisch. Alles ist auf das nahende Weltende, Armageddon, ausgerichtet, die Vernichtung aller Feinde Gottes und die Errichtung eines 1000-jährigen Friedensreichs, in dem 144.000 „wahre Zeugen Jehovas“ mit Christus im Himmel regieren.
„Ich hatte keinen eigenen Willen“
Die irdische Wirklichkeit sieht für Zeugen Jehovas allerdings weit weniger himmlisch aus. „Mein Leben war vollkommen durchgetaktet, ich war konditioniert. Ich hatte keinen eigenen Willen. Ich habe an meinem Leben vorbeigelebt“, sagt Miriam Sassen. „Die Zeugen mischen sich in jeden Lebensbereich ein.“ Die strengen Kontrollen, die Isolierung im Kreis der Gemeinschaft, die Erniedrigungen setzten ihr mehr und mehr zu. „Frauen haben bei den Zeugen nichts zu sagen. Sie sollen sich unterordnen.“ Auch allzu viel Bildung wird nicht für erforderlich gehalten. Lohnt sich nicht, der Untergang der diesseitigen Welt tritt ohnehin in absehbarer Zeit ein.
Mehr und mehr von der Gemeinschaft entfremdet
Für Miriam Sassen hatte dieses abgeschlossene Leben, in dem die Außenwelt als feindlich wahrgenommen wird, zunehmend Konsequenzen. Sie litt unter Zwangsstörungen und Magersucht. Als sie eines ihrer Kinder gebären sollte, gab es Komplikationen. Sie hätte eine Bluttransfusion benötigt. Doch die sind Zeugen Jehovas nicht gestattet, denn Blut sei etwas Heiliges. „Sollte ich für meinen Glauben sterben?“, fragte sie sich und gab sich selbst die Antwort: Nein, das konnte nicht sein. Sie und das Kind überlebten den Eingriff.
„Meinen Enkel nicht sehen zu dürfen, tut weh“
Doch danach geriet ihr Glauben ins Wanken, sie entfremdete sie sich von der Gemeinschaft. Sie erklärte 2008 ihren Austritt. „Plötzlich war ich allein mit drei Kindern.“ Die Ächtung sei das Schlimmste gewesen, denn der Ausstieg sei so etwas wie eine Todsünde. Sie hielt nicht lange durch. „Ich habe dem Druck nachgegeben. Damals war ich noch nicht bereit für den Schritt.“ Nach außen blieb sie Teil der Gemeinschaft, nach innen hatte sie sich längst abgewendet. Es sollte zehn Jahre dauern, bis sie den Mut fand, endgültig mit den Zeugen Jehovas abzuschließen. Dabei half ihr heutiger Ehemann, den sie kurz davor kennengelernt hatte. Er bestätigte sie in ihrem Entschluss. Sie schrieb den Ältesten einen Brief, in dem sie ihren Austritt erklärte. Eine Woche später wurde ihre Entscheidung bekannt gegeben. Die Konsequenzen waren ihr bewusst: Ihre Familie brach umgehend den Kontakt ab, darunter auch ihr Sohn, der kürzlich Vater geworden ist. „Ich habe mit meinen Eltern abgeschlossen. Aber meinen Enkel nicht sehen zu dürfen, tut weh.“
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Von den seelischen Verletzungen lösen
Ein wichtiger Schritt war für sie der Umzug nach Cuxhaven in eine neue Umgebung mit genügend Abstand. Nach wie vor muss sie lernen zu vertrauen, jeden Tag ein Stückchen mehr. „Aber ich habe jetzt ein eigenes Leben - ohne Verbote, ohne Strafe.“ Eine Psychotherapie hilft ihr dabei, sich von den über viele Jahre angewachsenen seelischen Verletzungen zu lösen. Und sie stellt ihre Erfahrung dem Verein „JZ Help“ zur Verfügung, der sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz gegen die Missachtung von Grund- und Menschenrechten bei den Zeugen Jehovas wendet und Aussteiger begleitet, berät und psychologische und juristische Betreuung vermittelt.

Fotograf Andy Reiner und Miriam Sassen beim Fototermin im Döser Watt bei der Kugelbake. Foto: Rohde
„Der Verein JZ Help ist ein echter Glücksfall“, sagt Miriam Sassen, denn viele Aussteiger drohten irgendwann zu zerbrechen. Die Suizidrate unter ihnen sei hoch. Voriges Jahr lud sie mehrere Aussteiger zu sich ein, um gemeinsam mit ihnen Weihnachten zu feiern. Das will sie auch dieses Jahr wieder tun.
Die Fotoserie
Der Fotograf Andy Reiner aus dem schwäbischen Warthausen fotografiert seit einiger Zeit Menschen, die bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen sind. Absicht ist es, ihnen Gesicht und Stimme zu geben. Über 60 Porträts aus ganz Deutschland sollen es insgesamt werden. Sie werden schließlich zu einer Ausstellung zusammengeführt. Auch ein Dokumentarfilm zum Thema soll entstehen, der im Oktober bei den Hofer Filmtagen gezeigt wird.