TZu Fuß von Stade nach Rom in 111 Tagen: Bettina Wiebe hat es geschafft
Bettina Wiebe (Mitte) mit ihrer Tochter Johanna und ihrem Wanderfreund Lorenzo Cesana in der Pilgerherberge im Vatikan. Foto: Bettina Wiebe
Den ersten Schritt ihrer Reise hat Bettina Wiebe in Stade getan. 2200 Kilometer ist sie bis zum Ziel gegangen: Rom. Aber es ist der Weg dorthin, der sie berührt und verändert hat.
Stade. „Wo bin ich? Wo will ich heute hin?“ Das ist der erste Gedanke, den Bettina Wiebe hat, als sie erstmals wieder in ihrem eigenen Bett in Buxtehude aufwacht. Nach 111 Tagen auf der Via Romea ist ihr das Wandern in Fleisch und Blut übergegangen.
30.000 bis 50.000 Schritte ist sie im Schnitt täglich gelaufen, hat die Alpen und den Appenin passiert. Sie ist durch Wälder und über Asphaltstraßen, durch brütend heiße Täler und über windige Bergpässe gegangen. Ihre Füße haben sie getragen, und sie hat daran nie gezweifelt.
Nasse Füße am ersten Tag
Dabei begegnete ihr die erste Widrigkeit schon kurz hinter Stade. Wie berichtet, war die 58-Jährige mit drei Etappengefährten am Pfingstsonntag losgegangen. „In Harsefeld kamen wir in ein unfassbares Gewitter. Wir standen knietief im Wasser“, berichtet sie. Die Schuhe bekamen sie bis zum nächsten Tag nicht mehr trocken. Für Wanderer ist das schwierig: Wenn die Haut aufweicht, drohen Blasen.

Während der ersten Wochen sind die Temperaturen kühl. Bettina Wiebe hat eine gute Jacke dabei. Foto: Bettina Wiebe
Bettina Wiebe hat es geschafft, den ganzen Weg über keine einzige zu bekommen. Als sie schon fast acht Wochen unterwegs war, stieß im Schongau ihr Mann, Tönnies Kohrs, zu ihr. Er brachte ihr neue Schuhe, das erste Paar war durchgelaufen. Fünf Wochen wanderten sie gemeinsam weiter. Doch die meiste Zeit ging Wiebe allein. Auch durch einsame Wälder.
Die vielen Augenpaare im Wald
Angst habe sie nicht gehabt. Manchmal fragte sie sich allerdings, wie viele Augenpaare sie wohl gerade ansehen. Denn die Wälder seien tatsächlich voll von Vögeln und allen möglichen anderen Tieren. Wölfe und mitunter sogar Bären gebe es wohl auch, aber: „Ich bin ja kein Schaf.“

Mystische Stimmung in den Wäldern des Casentino auf dem Weg zum Kloster la Verna. Foto: Bettina Wiebe
„Ich glaube, die größte Gefahr ist tatsächlich, von einem SUV überfahren zu werden“, sagt Wiebe. Welchen Stellenwert das Auto hat und wie seine Infrastruktur die Landschaft beherrscht, sei ihr sehr bewusst geworden.
Die schlimmste Etappe war die vor Augsburg: „Die Stadt ist ein Highlight und hat eine tolle Pilgerherberge. Aber dort hinzukommen, ist schrecklich.“ Zwei Tage lief sie an Straßen - rechts die Autobahn, links die Bundesstraße, dazwischen die Straßen, die sie kreuzen.
Gehen: Die ureigenste Fortbewegungsform
Oft musste sie in den Seitenstreifen hüpfen. Auch der Lärm sei enorm: „Manchmal gehst du stundenlang in die Natur und hörst die Straße immer noch.“ Wer zu Fuß geht, nimmt mehr wahr und lebt in einer anderen Zeit, sagt sie: „Du bist wie herausgeschält aus allem.“
Gehen ist für Wiebe das ureigenste Fortbewegungssystem des Menschen. Schon das Fahrrad sei im Grunde zu schnell, weil man manche Dinge am Wegesrand nicht mehr sehe. Langweilig war ihr nie: „Du musst deine Sinne öffnen. Selbst an einer Autobahn findest du dann noch etwas, woran du dich freuen kannst.“

Wandern, wo andere Strandurlaub machen: In Casal Borsetti, Etappe 87, bricht Bettina Wiebe in aller Frühe auf. Nächstes Ziel: Ravenna. Foto: Wiebe
Wiebe ist Koch- und Reisebloggerin (captains-dinner.blog). Kulinarik ist ihr wichtig, und damit ist es auf der Via Romea nicht immer gut bestellt. In Deutschland gebe es kulinarische Wüsten - dort, wo die alten Gasthöfe, der Bäcker und der Schlachter geschlossen sind und es nur noch einen Fast-Food-Lieferservice gibt. „In Italien dagegen hat jeder noch so kleine Ort eine kleine Bar, wo es etwas Vernünftiges zu essen gibt.“
Im Sterne-Restaurant wird die Pilgerin hofiert
Natürlich hat Wiebe sich auch im Supermarkt versorgt. Doch nach etwas Zögern hat sie auch mal allein ein Restaurant mit Sterne-Küche besucht. Ihr Mann hatte sie online angemeldet und geschrieben, dass sie auf dem Pilgerweg wandert. „Das fanden die toll. Ich wurde richtig hofiert.“ Fortan gönnte sie sich abends öfter mal ganz allein im Restaurant gehobene Küche.
In den letzten zweieinhalb Wochen von Arezzo nach Rom ging ihre 22-jährige Tochter Johanna mit ihr. Gemeinsam erreichten sie den Vatikan. Der Moment war weniger euphorisch als erwartet: Sie fühlten sich erschlagen von den pompösen Gebäuden, den Menschenmassen und Sicherheitschecks.
Der große Moment kam erst am Abend. In der Pilgerherberge im Kloster, wo es ruhig und schön war, unter lauter Gleichgesinnten, spürte sie endlich Triumph: das Gefühl, angekommen zu sein.
Traditonelle Fußwaschung im Vatikan
Auf Mutter und Tochter wartete noch ein Ritual: die Fußwaschung. Wie Jesus, der einst den Jüngern die Füße wusch, tun das heute Priester im Vatikan bei Pilgern. Sie schütten Wasser über ihre Füße, trocknen sie ab und küssen sie dann.
„Davon hast Du mir vorher nichts gesagt“, empörte sich ihre Tochter. Auch Bettina Wiebe fremdelte. „Aber dann war da so eine Dynamik und plötzlich saßen wir mit den anderen Pilgern im Stuhlkreis.“ Nach der Fußwaschung gab es den Segen: Möge die Rast Dich stärken, um deinen weiteren Lebensweg fortzusetzen.
Bevor sie losging, hatte Bettina Wiebe gedacht: „Wenn du das schaffst, schaffst du alles.“ So fühle es sich jetzt auch an. Nur das Ankommen im Alltag war nicht so leicht. Mit ihrem Mann, der Kreuzfahrtschiff-Kapitän ist, ist sie deshalb für zwei Wochen an Bord gegangen. Dort lässt sie alles noch einmal Revue passieren - und legt einfach mal die Füße hoch.

Kühles Fußbad an einem Bach in Italien. Foto: Bettina Wiebe