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TEinwohnerklau: Gemeinde Jork verklagt Land wegen Zensus-Daten

„Zensus 2022“ steht auf einem Tablet, mit dem Beauftragte der gleichnamigen Volkszählung örtliche Befragungen vorgenommen haben.

„Zensus 2022“ steht auf einem Tablet, mit dem Beauftragte der gleichnamigen Volkszählung örtliche Befragungen vorgenommen haben. Foto: Daniel Karmann/dpa

Sag mir, wo die Einwohner sind, wo sind sie geblieben? Dieses Klagelied will Bürgermeister Riel nicht mehr singen: Die Gemeinde Jork zieht vor Gericht.

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Von Björn Vasel
Mittwoch, 27.08.2025, 05:50 Uhr

Jork. Im Juli 2025 landete ein Schreiben des Landesamts für Statistik in Hannover im Briefkasten von Bürgermeister Matthias Riel (parteilos). Auf Grundlage der Volkszählung 2022 (Zensus) setzte das Amt am 16. Juli die amtliche Einwohnerzahl der Gemeinde Jork fest: 11.647 Personen - mit Stand zum 15. Mai 2022. Bürgermeister Matthias Riel traute seinen Augen kaum. Mit einem Federstrich waren 900 Einwohnerinnen und Einwohner futsch.

Doch von einem Massenexodus hatten die Altländer nichts bemerkt. Wohnungen standen nicht leer. Auch Wahlbenachrichtigungskarten kamen nicht zurück. Kurzum: Die Menschen, deren Namen und Adressen im „gut geführten“ Melderegister im Rathaus Jork stehen, hatten sich nicht in Luft aufgelöst. Sie lebten und leben weiterhin in der Kommune, so Riel.

Die Krux: Das Statistische Bundesamt und die Landesämter orientierten sich bei ihrem Zensus nicht an der im Neuen Testament erwähnten, vom römischen Kaiser Augustus befohlenen Volkszählung. Der Zensus 2022 - durchgeführt vom Statistischen Bundesamt und den jeweiligen Landesämtern - basierte auf einer registergestützten Bevölkerungszählung, die unter anderem mit Haushaltsbefragungen auf Grundlage von Stichproben kombiniert wurde.

Verschwundene Einwohner leben weiter in der Gemeinde Jork

Wo sind die Einwohner geblieben? Das fragten sich die Mitarbeiter der Verwaltung. Sie stiegen tiefer in die Materie ein. „Völlig unverständlich ist die Entwicklung seit 2011“, legt Riel nach. Die vom Land Niedersachsen ermittelten 11.674 Einwohner (2022) liegen 600 Einwohner unter der Zensus-Festsetzung 2011. Der Bürgermeister kann es nicht fassen. „Niemals sind unsere Einwohnerzahlen in den vergangenen elf Jahren gesunken. Das Gegenteil ist der Fall.“

Bürgermeister Matthias Riel setzt auf das Verwaltungsgericht Stade.

Bürgermeister Matthias Riel setzt auf das Verwaltungsgericht Stade. Foto: Vasel

Der Verwaltungschef verweist auf das Melderegister, die Zustellung von Wahlbenachrichtigungskarten und die Wohnungsbautätigkeit, aber auch die Untersuchungen zu Bevölkerungsprognose und Wohnraumversorgungskonzept. Wenn das Land recht hätte, wäre fast jeder zehnte Personendatensatz im Einwohnermeldeamt der Gemeinde Jork falsch. Und: Bei der Europawahl 2024 seien nur 40 von 9105 Wahlbenachrichtigungskarten zurückgekommen. Riel: „Das alles macht deutlich: Die Einwohnerzahlfestsetzung des Landes zum 15. Mai 2022 ist objektiv falsch.“

Für Riel ist klar: „Für uns liegt die große Fehlerquote beim statistischen Zensus-Verfahren in der nur stichprobenartig durchgeführten Haushaltsbefragung mit den vom Land vorgenommenen Hochrechnungen.“ Er und seine Mitarbeiter hätten gerne einen Blick in die Unterlagen zum Zensus 2022 in der Gemeinde Jork geworfen. „Diese konnte uns das Statistikamt nicht mehr vorlegen“, klagt Riel.

Behörden vernichten Beweismittel aus Datenschutzgründen

Die Akteneinsicht wurde verweigert. Allerdings nicht aus Boshaftigkeit gegenüber den renitenten Altländern. Die Statistiker in Hannover verwiesen auf den Datenschutz. Die Zensus-Akten seien deshalb bereits komplett vernichtet worden, so das Land.
Dass erschwere der Kommune, gegen den Bescheid des Landes rechtlich vorzugehen, so Riel. Zudem seien damit Beweismittel vernichtet worden. Dass eine Haushaltsbefragung mit einer Hochrechnung „allein zu einer Abweichung von gut 1000 Einwohnern führt, das ist aus unserer Sicht mehr als fragwürdig“, sagt Riel.

Das wollen die Altländer nicht widerstandslos hinnehmen. „Die aus unserer Sicht falsche Einwohnerzahl mit fehlender Kontrollmöglichkeit sowie die nachteiligen Auswirkungen vor allem beim kommunalen Finanzausgleich sind für uns Grund genug, gegen den Zensus-Bescheid beim Verwaltungsgericht in Stade zu klagen“, erklärt Riel. Am 18. August habe Jork die Klage gegen das Landesamt für Statistik, vertreten durch die Präsidentin Simone Lehmann, beim Verwaltungsgericht Stade eingereicht. Auch einige Mitgliedsgemeinden der Samtgemeinde Lühe klagen.

Altländer setzen auf Justitia

Vor dem Verwaltungsgericht gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Das heißt: Das Verwaltungsgericht in Stade muss den für seine Entscheidung notwendigen Sachverhalt von sich aus ermitteln - der Kläger muss keine Beweise liefern und kann sich quasi zurücklehnen.

Wie hoch die Erfolgsaussicht der Klage ist, sei laut Riel offen. Allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 19. September 2018 (2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15) seinerzeit den Zensus 2011 bestätigt - trotz ähnlicher Kritik. Viele niedersächsische Kommunen setzten gleichwohl auf den Rechtsweg, um ihre kommunalen Rechte zu schützen. Riel: „Für uns bleibt es jedenfalls dabei: 12.635 ist die Einwohnerzahl, die zum Mai 2022 richtig registriert ist - und diese Mitmenschen wohnen auch tatsächlich in unserer Gemeinde.“

In den Kassen der Kämmerei landet weniger Geld.

In den Kassen der Kämmerei landet weniger Geld. Foto: Monika Skolimowska/dpa

Wie viel Geld der Kommune verloren geht, ist noch offen. Ein bis zu sechsstelliger Betrag steht in der Gemeinde Jork und in der Samtgemeinde Lühe jeweils im Raum. Die Finanzdaten stehen erst im Herbst fest. Die Prozesskosten hingegen liegen voraussichtlich bei wenigen Hundert Euro für die Gemeinde Jork. Eine Rathausjuristin übernimmt den Fall.

Durch den Zensus sind in Niedersachsen insgesamt 170.000 Menschen verschwunden. Die Statistiker haben ein Eigentor geschossen. Die niedrigere Einwohnerzahl macht sich im Länderfinanzausgleich bemerkbar, es gibt weniger Geld vom Bund. Das Niedersächsische Finanzministerium sprach von 140 Millionen Euro im Jahr.

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