TSie kämpft gegen das Vergessen: Nazis ermordeten 1944 ihre Schwester

Zeitzeugin Antje Kosemund wird von Narin, Azra und Clara in der Geschichtswerkstatt der Oberschule Jork interviewt. Foto: Vasel
Ihre Schwester wurde von den Nazis ermordet. Seit Jahrzehnten erinnert Antje Kosemund daher unermüdlich an die Verbrechen der NS-Diktatur. Nun war sie in Jork - aber warum?
Jork. Auch in diesem Jahr beschäftigen sich die Schüler der Geschichtswerkstatt der Oberschule Jork mit dem Rassenwahn der Nationalsozialisten. Dazu haben die Altländer die Euthanasie-Gedenkstätte der Psychiatrischen Klinik in Lüneburg besucht. Die Neuntklässler wollen unter anderem mehr über das Schicksal von sechs Kindern aus der Gemeinde Jork erfahren. Diese waren von den Nazis im Zuge der Kinder-Euthanasie in Kinderfachabteilungen psychiatrischer Anstalten ermordet worden, fünf von ihnen in Lüneburg.
Von 1940 bis 1945 töteten die Nationalsozialisten 200.000 Menschen mit körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung. Im Zuge der Aktion T4 leerten sie viele Heil- und Pflegeanstalten. Viele verhungerten, anderen verabreichten sie Medikamente wie Luminal oder töteten sie mit Gas.
Bereits im Juli 1933 setzten die Nazis das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Rund 400.000 Menschen wurden zwangssterilisiert, davon allein 700 im Kreis Stade. Das altgriechische Wort Euthanasie bedeutet eigentlich „schöner Tod“. Nationalsozialisten nutzten ihn als Umschreibung der systematischen, brutalen Ermordung von Menschen, die nach dem NS-Rasse-Ideal als „lebensunwert“ galten. In einem vertraulichen Runderlass des Reichsinnenministeriums vom 18. August 1939 wurden die Ärzte und Hebammen verpflichtet, Kinder mit schweren angeborenen Leiden zu melden. Im Oktober 1939 erteilte Hitler den Mordbefehl.
Zeitzeugin zu Gast in der Geschichtswerkstatt
Auch eine Schwester von Antje Kosemund aus Hamburg wurde von den Nazis ermordet: Irma Sperling starb im Alter von 14 Jahren in einer Tötungsanstalt in Wien. Die Schüler-Geschichtswerkstatt hatte die 96-jährige Kosemund eingeladen, die sich seit Jahrzehnten für ein würdiges Erinnern an die Opfer der Euthanasie in der NS-Zeit einsetzt. Sie warnte die Schüler eindringlich vor den neuen Nazis in Gestalt der AfD: „Es kann wieder passieren, wenn wir nicht wachsam sind.“

Antje Kosemund wurde für ihr Engagement im Jahr 2013 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, ihre Familiengeschichte gibt es auch als Buch. Foto: Vasel
Rückblick: Antje Kosemund wächst als sechstes von zwölf Kindern in einem linken Haushalt auf. Ihr Vater wird im Mai 1933 von den Nazis verhaftet und im Stadthaus verhört. Dieses ist die Zentrale des nationalsozialistischen Terrors in Hamburg. Nach der Entlassung verliert Bruno Sperling seine Arbeit bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse.
Die Familie lebt in Armut, doch sie lesen, singen und musizieren gemeinsam. Kosemund erinnert sich noch, dass die zwei Jahre jüngere Irma sich in ihrem Bettchen zur Musik wiegte und ihnen den Takt vorgab. Doch eine Nachbarin denunziert sie. Ärzte diagnostizieren eine körperliche und geistige Entwicklungsstörung. Im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort macht sie Fortschritte. Doch ein Psychiater revidiert die positive Diagnose und fällt ein todbringendes Urteil: Schwachsinn. Irma Sperling wird Ende 1933 in die Alsterdorfer Anstalten eingewiesen.
Ihre Vater besucht sie anfänglich noch. Doch ein Pfleger warnt ihn: Besuche eines NS-Gegners würden ihr Leben gefährden. Anfang 1945 erhält die Familie die Nachricht, dass Irma gestorben sei. Lungenentzündung stand unter anderem in der Sterbekunde, verbunden mit einer Rechnung über 2.592,50 Reichsmark.

Irma Sperling (1930 - 1944). Foto: Archiv Kosemund
Irma war am 16. August 1943 mit 227 anderen Mädchen und Frauen nach Österreich gebracht worden. In der Tötungsanstalt wurden sie kaum noch ernährt und übermedikamentiert. Ärzte führten medizinische Experimente durch - auch an Irma. Sie starb am 8. Januar 1944. Ihr Gehirn wurde nach ihrem Tod präpariert und in die Wiener Gehirnkammer gestellt.
NS-Euthanasie-Arzt Heinrich Gross machte auch nach dem Krieg weiter Karriere. Er wurde wie fast alle nicht bestraft. „Die Mörder sind unter uns“, sagt Kosemund in Anspielung auf einen Nachkriegsfilm von 1946. Die frühere Postmitarbeiterin und Gewerkschaftlerin klagt: Nach dem Krieg seien Opfer erneut diskriminiert worden.
Hamburgerin kämpft für ihre kleine Schwester
Dem hartnäckigen, jahrzehntelangen Kampf ihrer großen Schwester - aktiv bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten - ist es zu verdanken, dass Irma am 8. Mai 1996 auf dem Ehrenfeld der Geschwister-Scholl-Stiftung auf dem Friedhof Ohlsdorf bestattet werden konnte. Heute erinnert ein Stolperstein in Barmbek an sie, in Alsterdorf gibt es einen Irma-Sperling-Weg. Kosemund erhielt 2013 das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement für die Opfer der Nazi-Euthanasie.
Für Überlebende der NS-Zeit sei es unerträglich, dass es seit der Wiedervereinigung 220 Todesopfer rechtsextremistischer Gewalt gab und die AfD mit ihrer völkischen Ideologie heute im Bundestag sitze: „Was die von sich geben, das ist Nazi-Jargon.“
Krieg und Terror, das solle die Jugend von heute nicht wie sie erleben. Die Jugendlichen verfolgten ihre Worte bewegt. Das Interview der Schüler wird Bestandteil der Ausstellung im Museum Altes Land im Juni sein. Ihren Appell gegen das Vergessen und das Verdrängen und für die Achtung der Menschenwürde teilten die Schüler. Narin von der Geschichtswerkstatt: „So etwas darf nie wieder passieren.“