TSo erlebte Heinz Kugis die Flucht von Ostpreußen ins Alte Land

Über 80 Jahre ist eine Freundschaft zwischen den Familien Kugis und Stechmann entstanden. Foto: Buchmann
Heinz Kugis war neun Jahre alt, als er im tiefsten Winter vor der Roten Armee flüchten musste. Im Alten Land fand seine Familie eine neue Heimat.
Guderhandviertel. Winter 1944/1945: Etwa zwei Millionen Menschen flohen im tiefsten Winter aus Ostpreußen in Richtung Westen, als die russische Rote Armee in die deutsche Provinz einfiel. Nur das Notwendigste packten die Familien auf Pferdewagen, lange Trecks bahnten sich Wege durch Eis und Schnee. Hunderttausende starben durch Kälte, Hunger oder Gewalt. Der damals neunjährige Heinz Kugis überlebte die Flucht und fand mit seiner Familie eine neue Heimat im Alten Land.

1936: Der einjährige Heinz Kugis auf dem Hof seines Elternhauses in Preußendorf in Ostpreußen. Foto: privat
Zur Welt kam Heinz Kugis 1935 in Altkrug im Kreis Gumbinnen. Gemeinsam mit seinen Eltern, zwei jüngeren Schwestern und den Großeltern lebte er in einem kleinen Haus im ländlichen Preußendorf. Der Krieg prägte die Kindheit des heute 89-Jährigen nachhaltig. „Oft konnten wir wegen des Bombenalarms gar nicht oder nur nachmittags zur Schule gehen“, erinnert sich Heinz Kugis.
Auf der Flucht vor der Roten Armee
Sein Vater Erich Kugis arbeitete bei der Reichsbahn, wurde von der Wehrmacht bei Kriegsbeginn eingezogen. Mutter Erna Kugis war gelernte Schneiderin. Von ihr habe er vieles gelernt, sagt Heinz Kugis. „Sie war eine sparsame Frau und hatte immer Geld auf der Kante liegen.“ Auch habe sie ihren Kindern immer wieder eingebläut, alles rechtzeitig zu erledigen.

Mutter Erna Kugis (links) und Großvater Karl Jonas (rechts) bei einer Taufe 1958 hinter dem Lühedeich. Foto: privat
Als die Rote Armee am 20. Oktober 1944 Ostpreußen angriff und auf die Kreisstadt Gumbinnen zusteuerte, reagierte Familie Kugis sofort. „Wir hatten schon alles bereit zur Abreise“, sagt Heinz Kugis. Sein Großvater Karl Jonas habe das bereits im Vorfeld organisiert, „denn wenn der Russe uns abschneidet, dann frisst er uns auf“, zitiert ihn Heinz Kugis.
Besonderes Weihnachtsfest im Kriegswinter
Am 21. Oktober brach die Familie mit acht Personen zu Fuß auf in Richtung Insterburg. Auf dem Pferdewagen war nur das Nötigste wie Lebensmittel aufgeladen, für Spielzeug oder andere Dinge war kein Platz. Lediglich seine Tasche mit den Schulbüchern durfte Heinz Kugis mitnehmen. Hunderte Kilometer legte die Familie auf der Suche nach einem sicheren Ort zurück.

Heinz Kugis mit seinen beiden jüngeren Schwestern. Foto: privat
In Manchengut im heutigen Polen überwinterte die Familie bis zum Januar, die Kinder gingen dort durch meterhohen Schnee zur Schule. In besonderer Erinnerung blieb Heinz Kugis das Weihnachtsfest: „Wir hatten einen Tannenbaum besorgt und mit glitzerndem Papier und Kerzen geschmückt.“
Flucht bei minus 20 Grad und durch Schnee
Doch der Krieg holte die Familie wieder ein. Die zweite Flucht, wie Heinz Kugis sie nennt, kam abrupt. Bei minus 20 Grad Celsius musste die Familie weiterziehen, Kälte und Schnee ließen „die Beine anfrieren“. Auf dem Weg Richtung Danzig mussten die Großeltern zurückbleiben, die Kräfte reichten nicht aus. Den gefährlichen Weg über die zugefrorene Ostsee wollte Erna Kugis nicht einschlagen.

Die Geschwister Christel, Heinz und Helga (von links) kamen vor 80 Jahren ins Alte Land. Foto: Buchmann
Auf Wehrmachts-Lkw und Eisenbahnwaggons reiste die Familie weiter in Richtung Westen. Die Verpflegung war knapp, verwundete Soldaten teilten ihre Rationen mit der Familie. Da sie kein Wasser dabei hatten, lutschten sie unterwegs Eiszapfen. Die täglichen Marschrouten waren lang. „Wir liefen von hell bis dunkel“, sagt Kugis.
Über zugefrorene Bahnschienen kriechen
Am Oder-Ufer vor Stettin war plötzlich Endstation. Die Bahnbrücke war vereist. „Meine Mutter hat uns mit Schals zusammengebunden und wir mussten über die Schienen krabbeln“, schildert Kugis. Bei einer Kontrolle der Reisepapiere kam der nächste Schock: Bei der Trennung von den Großeltern waren die Taschen vertauscht worden. Doch glücklicherweise war der Dienstausweis des Vaters in der Tasche, der Kontrolleur zeigte sich nachsichtig.

Kinder aus Guderhandviertel, 1946: Heinz Kugis (Mitte), links neben ihm steht der junge Rudolf Stechmann. Foto: privat
Die monatelange Odyssee endete am 27. März 1945 in Harburg, in Sicherheit. „Da kommt der Russe nicht hin“, erinnert sich Kugis an die Worte seiner Mutter. Über Stade kam die Familie nach Guderhandviertel ins Alte Land, auf dem Anhänger eines Traktors. „Jetzt fahrt ihr ins Schlaraffenland“, hatte jemand zu Heinz Kugis gesagt. Das stimmte sogar, schon bald hingen die Kirschbäume auf dem Lühedeich voller Früchte.
Ein besonderes Band zwischen zwei Familien
Untergebracht wurden sie auf dem Obsthof von Peter Stechmann und seiner Familie, der kurzerhand eine neue Eingangstür in die Seitenwand seines Hauses einbaute. In diesen zwei Räumen begann ein neuer Lebensabschnitt für Familie Kugis, Tante und Großeltern kamen später nach. „Meine Mutter hat für Gott und die Welt genäht, wir Kinder gingen zur Schule und haben bei Ernte und Hofarbeit geholfen“, sagt Heinz Kugis. Seiner Mutter sei wichtig gewesen, dass sie sich als Gäste immer gut verhalten. Er habe auch schnell Plattdeutsch gelernt, sagt Heinz Kugis und lacht.

Heinz Kugis (links) und Rudolf Stechmann schauen sich die Fluchtroute aus dem damaligen Ostpreußen Richtung Westen an. Foto: privat
Über 80 Jahre entstand ein besonderes Band zwischen den beiden Familien. „Alle waren fleißig, sie haben sich alles selbst erarbeitet“, sagt Rudolf Stechmann, der damals noch Kind war. Heinz Kugis baute ein Haus in Postmoor, Erna Kugis lebte bis zu ihrem Tod 2016 mit Tochter Christel in einem Haus in Dollern. Nach Preußendorf ist Familie Kugis nie zurückgekehrt. Heinz Kugis erinnert sich an die Worte seiner Mutter: „Wir brauchen gar nicht an Ostpreußen denken, es ist eine neue Zeit.“
Transparenzhinweis: In einer vorherigen Fassung stand, dass Heinz Kugis‘ Vater bei der Bundesbahn angestellt war. Korrekt ist jedoch, dass er bei der Reichsbahn gearbeitet hat.