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Medizinermangel

T34-Jährige traut sich: Von der Hauptschülerin zur Landärztin

Annika Bölke, Medizinstudentin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, steht auf dem Campus Haarentor. Die ehemalige Hauptschülerin hat das Medizinstudium nach der sogenannten Landarztquote angetreten.

Annika Bölke, Medizinstudentin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, steht auf dem Campus Haarentor. Die ehemalige Hauptschülerin hat das Medizinstudium nach der sogenannten Landarztquote angetreten. Foto: Dittrich/dpa

Der Ärztemangel macht‘s möglich: Dank Landarztquote und Fördermöglichkeiten sind auch Karrieren mit Umwegen möglich. Die zweifache Mutter Annika Bölke schmiss ihren Schwachsinnsjob - und startet durch.

Von Lars Laue Dienstag, 02.04.2024, 08:33 Uhr

Bremen. „Grottenschlecht“ sei er gewesen, sagt Annika Bölke über ihren Hauptschulabschluss. Und dennoch verfolgt die gebürtige Bremerin ein Berufsziel, das sie zwischenzeitlich beinahe schon aufgegeben hätte: Annika Bölke will Ärztin werden und hat an der Uni Oldenburg im ersten Medizin-Semester gerade ihre ersten Prüfungen bestanden. Im Alter von 34 Jahren.

„Muskeln, Nerven, Gefäße - ich musste so viel auswendig lernen, aber es hat geklappt“, freut sich die Studentin und ist sich sicher: „Jetzt schaffe ich den Rest auch.“ Dabei war der Weg ins Studium steinig und lang. „Nach meinem Hauptschulabschluss mit lauter Vieren hatte ich mich damals schon am Rand der Gesellschaft gesehen“, erinnert sich die blonde Frau mit dem unbändigen Willen. Dieser half ihr letztlich auch dabei, ihren Traum vom Medizin-Studium zu verwirklichen.

Ärztemangel: Wie die Landarztquote helfen soll

Nach der Hauptschule geht es zunächst ins Fitnessstudio. „Ein Schwachsinnsjob“, weiß Bölke heute, „völlig perspektivlos“. Aber immerhin spart sie auf diesem Weg 4000 Euro zusammen. Sie fliegt mit dem Geld nach Südafrika. Dort werden Frühchen versorgt. Die Kleinen leiden unter Läusen, Flöhen und Krankheiten sowie unter Wunden von ausgedrückten Zigaretten. Am Ende steht Annika Bölkes Entschluss fest: „Ich werde Medizin studieren.“

Doch nur mit einem Hauptschulabschluss in der Tasche geht das freilich nicht. Zurück in Deutschland, wendet Bölke sich an eine Abendschule in Bremerhaven. Da ist sie 22. „Ich habe dem Schulleiter klargemacht, dass ich auf direktem Weg zum Abitur möchte. Ohne Umwege über einen erweiterten Haupt- oder Realschulabschluss oder so etwas.“ Nach einigen Verhandlungen lässt die Schule sich schließlich darauf ein, gewährt ihr ein halbes Jahr auf Probe. Annika Bölke steigt mit 23 Jahren in die zwölfte Klasse ein.

„Meine ersten Noten waren schlecht, aber ich wurde immer besser“, sagt die ehemalige Abendschülerin. Bölke wird so gut, dass die Probe entfällt. In den Ferien fliegt sie nach Dublin, um an ihren Fremdsprachenkenntnissen zu arbeiten. „Ich konnte ja kaum Englisch.“ Auch nahm sie „viel Nachhilfe“. Das Ergebnis: Ein Abitur mit einem Schnitt von 1,7 – die damals 25-Jährige legt einen der besten Abschlüsse an der Abendschule hin.

Doch ein Abischnitt von 1,7 reicht in der Regel nicht, um Medizin zu studieren. Wo Annika Bölke sich auch einschreibt, es hagelt nur Absagen. Zwischenzeitlich ist die zielstrebige Frau nicht untätig; arbeitet als Pflegehelferin in einem Altenheim, bildet sich zur Rettungssanitäterin fort, absolviert eine dreijährige Ausbildung zur Anästhesieschwester, arbeitet in diesem Beruf, heiratet ihre große Liebe und bekommt mit ihrem Daniel zwei Kinder. Der Sohn der beiden ist mittlerweile dreieinhalb Jahre alt, die Tochter fast zwei.

Medizinstudium: „Unfassbar viel Stoff“

Die Familie wohnt in einem kleinen Eigenheim in Bremen-Nord. Als Annika Bölke schon über 30 ist und mit ihrem Wunsch, Ärztin zu werden, beinahe abgeschlossen hat, stößt sie auf die Landarztquote in Niedersachsen.

Dieses Modell ermöglicht Interessierten einen erleichterten Zugang zum Medizin-Studium. Die Studierenden müssen sich aber im Gegenzug verpflichten, danach zehn Jahre lang als Arzt oder Ärztin in medizinisch unterversorgten Regionen zu arbeiten – meist auf dem Land also.

Obwohl ein Medizin-Studium nun eigentlich gar nicht mehr in das Leben der zweifachen Mutter passt, folgt Annika Bölke dem Rat ihres Mannes und unternimmt schließlich einen „allerletzten“ Anlauf auf das Medizin-Studium und siehe da: Dieses Mal klappt es. „Ich habe aus Oldenburg die Zusage bekommen und gleichzeitig Panik“, sagt Bölke. „Ich war neun Jahre aus der Schule raus und steckte zwischen Freude und Furcht.“

Heute lernt Annika Bölke „teilweise auf dem Fußboden im Kinderzimmer“. Noch gehe es ohne Nachhilfe, aber gerade Physik und Chemie seien ihre „Endgegner“.

Das sei „unfassbar viel Stoff“ und den könne sie immer erst abends lernen, wenn die Kinder schlafen. „Da komme ich echt an meine Grenzen“, sagt Bölke, die an den Wochenenden nebenbei als Schwester in einer Notaufnahme arbeitet und einen Zuschuss über ein Stipendium bekommt. Außerdem erhält die Familie staatliche Hilfen, um über die Runden zu kommen.

Warum Annika Bölke Landarztin werden will

„Ein zweites Stipendium würde uns finanziell wirklich helfen“, wirbt die Studentin um Unterstützung – zumal ihr Mann beruflich pausiere, um ihr den Rücken freizuhalten und sich um die beiden Kinder kümmern zu können. Der Versicherungskaufmann wolle aber spätestens nächstes Jahr in seinen Beruf zurückkehren.

Omas und Opas, die helfen könnten oder Kita-Plätze für die Kleinen? „Beides leider nicht“, sagt Annika Bölke, die mittlerweile wieder fest entschlossen ist, Ärztin werden zu wollen – und zwar Landärztin. Sie kenne die Arbeit in der Notfallmedizin. „Das will ich nicht dauerhaft machen.“

Der Beruf der Hausärztin sei sicher auch „kein Wellnessprogramm“, aber „es ist der Hafen, nicht die Front“, wählt die Medizin-Studentin einen bildhaften Vergleich. Doch auch bis zum „Hafen“ hat Annika Bölke noch einen weiten Weg von etwa zehn Jahren vor sich.

Wenn alles gut geht, muss sie noch viereinhalb Jahre studieren. Dann folgen laut Bölke auf dem Weg zur Fachärztin für Allgemeinmedizin zwei Jahre Praxis in einem Krankenhaus und eine dreijährige Tätigkeit in einer Arztpraxis, bevor sie als Landärztin tätig werden kann. Macht zusammen rund zehn Jahre. Annika Bölke ist dann 44, ihre Kinder fast 14 und zwölf.

Eine lange Strecke, die sie aber nicht entmutigt. „Ich will und ich schaffe das.“ (bal)

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