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Interview

TAwo-Geschäftsführerin: „Durch die Krisen ist eine Angstgesellschaft entstanden“

Anna Vaccaro-Jäger und Dierk van Dülmen.

Anna Vaccaro-Jäger und Dierk van Dülmen. Foto: Richter

Hatte Angela Merkel recht, haben wir es geschafft? Darauf antworten in diesem Interview zwei Experten von der Awo, die im Kreis Stade mit der Integration betraut sind: Geschäftsführerin Anna Vaccaro-Jäger und Abteilungsleiter Dierk van Dülmen.

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Von Anping Richter
Dienstag, 11.11.2025, 15:50 Uhr

Landkreis. Frau Vaccaro-Jäger, Herr van Dülmen, vor zehn Jahren hat Angela Merkel in der Flüchtlingskrise einen Satz gesagt, der Deutschland geprägt hat: „Wir schaffen das.“ Wie erleben Sie und ihre Kollegen die heutige Situation? Haben wir es geschafft?

Vaccaro-Jäger: Nein. Wenn so viele Menschen aus großer Not heraus in ein fremdes Land fliehen, kann man das nur mit so einem Appell nicht schaffen. Diese Menschen wären normalerweise niemals hergekommen, wenn in ihren Herkunftsländern kein Krieg wäre, wenn es nicht die Umstände erfordert hätten. Sie kommen mit einer Vorbelastung hierher. Sie zu integrieren bedeutet, dass man sie mit dieser Gesellschaft vertraut machen muss und von ihnen fordern sollte, die Wertvorstellungen zu verstehen und die hier herrschende Ordnung nachzuvollziehen und umzusetzen. Dafür braucht es viel, viel mehr als den Appell. Es braucht eine große Anstrengung, um wirkliche Integration zu leisten.

Aber vieles ist in den zehn Jahren doch geschafft worden. Könnten Sie darstellen, wie Sie die Entwicklung erlebt haben?

Van Dülmen: Ab Oktober 2015 haben wir den Ansturm gespürt. Wir hatten montagmorgens 40 Leute im Flur, die zu zwei bis drei Beratern wollten. Es ging darum, das ganze System zu erklären: Asylverfahren, Bildung, Gesundheitsversorgung. Einige hatten auf der Flucht gelitten. Das ging von der Schussverletzung bis zu Misshandlung und Folter. Viele hatten Kinder mitgebracht. Wir verwiesen an Ärzte, Schulen, Kitas. Zum Glück hat der Landkreis unsere Stellen aufgestockt, so dass wir 2016 am Ende sechs Vollzeitstellen hatten.

Wir hatten auch ein sehr starkes Ehrenamt, eigentlich in jeder Gemeinde hier im Landkreis. Überall organisierten sich Arbeitskreise, mit denen wir dann auch zu tun hatten. Diese große Hilfsbereitschaft kam jetzt auch noch mal mit der Ukraine-Situation. Wenn es darauf ankommt, sind viele Leute bereit, anzupacken. Das war ein sehr positiver Effekt. Die allermeisten Menschen, die zu uns in die Beratungen kamen, waren auch sehr dankbar.

Vaccaro-Jäger: Heute gibt es ganz viele Menschen, die inzwischen integriert sind und steuerpflichtig arbeiten. Wir konnten viele unterstützen, in Arbeit zu kommen - dazu kann mein Kollege ein paar Zahlen liefern. Wir konnten bei Wohnraumsorgen oft vermitteln. Und wir haben es geschafft, dass die Kinder nach ärztlichen Vorgaben untersucht und betreut werden, dass die Gesundheitsförderung dieser Menschen, die teilweise sehr krank waren, auf einem sehr guten Weg ist.

Van Dülmen: Bei denen, die 2015/16 gekommen sind, liegt die Beschäftigungsquote bei 64 Prozent - laut einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. In der Gesamtbevölkerung sind es 70 Prozent. Bei den damals eingewanderten Männern liegt die Beschäftigungsquote sogar bei 76 Prozent, bei den Frauen allerdings nur bei 35 Prozent. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung liegt die Beschäftigungsquote bei 72 Prozent für Männer und 69 Prozent für Frauen. Das heißt für uns, dass wir zusehen müssen, dass sich die Arbeitsmarktintegration bei den Frauen verbessert. Es gibt schon jetzt viele Angebote speziell für Frauen, die wahrscheinlich noch verstärkt werden müssen. Ein Punkt ist oft die Kinderbetreuung. Oft heißt es: Ich kann noch nicht in den Deutschkurs, ich warte auf einen Kita-Platz.

Vaccaro-Jäger: Viele haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Viele identifizieren sich mit diesem Land und sagen: Was habt ihr das gut, dass ihr eine Gewaltenteilung habt und niemand dich und deine Familie einfach einbuchten oder umbringen kann. Und viele schätzen die Freiheit und die Möglichkeiten, die sich in dieser offenen Gesellschaft bieten. Für einige ist das allerdings eine Überforderung. Insbesondere für diejenigen, die eigentlich nicht aus der Heimat wegwollten, aber von Familienangehörigen gegen ihren Willen geschickt wurden, damit sie nicht in den Krieg mussten oder ethnischen Säuberungen zum Opfer fielen. Die sind nie wirklich angekommen. Sie ziehen sich zurück in ihre alten kulturellen Strukturen, weil das das einzige ist, was ihnen noch Halt bietet.

Können diese Menschen noch für unsere Gesellschaft gewonnen werden?

Vaccaro-Jäger: Genau das sind die, auf die wir uns konzentrieren müssen, um ihnen Halt zu geben und ihnen die Augen für Möglichkeiten und Perspektiven zu öffnen. Da geht es um Kurse, auch um psychologische Betreuung. Dafür müssten wir einen Beratungs-Schlüssel von eins zu zehn haben. Diese Struktur haben wir nicht, und die werden wir angesichts der Finanzlage wohl auch nicht kriegen.

Aber wäre es am Ende nicht für alle besser, die Mittel bereit zu stellen und diese Strukturen zu schaffen?

Vaccaro-Jäger: Ich glaube, wir müssen es. Aber wenn ich realistisch bin, habe ich Zweifel, ob eine verunsicherte und verängstigte Gesellschaft die Kraft dazu aufbringt, den Blick auf diese Fragen zu richten und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Viele denken: Die haben sich einfach anzupassen. Das ist wohl richtig - aber einfach so funktioniert es eben nicht. Wir brauchen viel tiefgreifendere Arbeit. Wir brauchen Lotsen und psychosoziale Betreuung. Wir brauchen auch Austausch - Vorbilder aus den Herkunftsländern, die es hier geschafft haben. Lebende Beispiele, die zeigen, dass und wie es geht. Meine Einschätzung ist aber, dass die Gesellschaft im Moment dazu nicht bereit ist, weil sie nur in Schwarz und Weiß und nur polarisiert denkt.

Nehmen Sie eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas wahr? Wie war es 2015, wie ist es heute?

Vaccaro-Jäger: Wir hatten 2015 keine dramatische Energiekrise, auch die Klimakrise war nicht so präsent, und wir hatten noch kein Corona gehabt. All diese Dinge haben mit den Menschen etwas gemacht, mit ihren Toleranzgrenzen. Wenn Menschen sich bedroht fühlen, ist die Hilfsbereitschaft gegenüber Dritten naturgemäß geringer. Die persönlichen Ängste sind so viel größer geworden. Dass der Blick dann nach innen und nicht mehr nach außen gerichtet ist, ist normal. Aber man muss es verstehen, um die Situation einordnen zu können.

Wir können trotzdem der Realität nicht ausweichen, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund beträgt 30 Prozent. Wie kann es trotz des veränderten gesellschaftlichen Klimas gelingen, dass das Zusammenleben gut klappt?

Vaccaro-Jäger: Ich erlebe, dass die Menschen hier oft problemorientiert denken und nicht lösungsorientiert. Wir leben sehr privilegiert: Im globalen Süden sterben Leute an Lungenentzündung, weil sie sich kein Antibiotikum für einen Euro kaufen können. Hier muss niemand verhungern, niemand wegen mangelnder ärztlicher Betreuung auf der Straße sterben. Wir haben ein funktionierendes Kindergarten- und Schulsystem. Wir haben die Möglichkeit, Menschen, die in soziale Schieflage geraten sind, aufzufangen. Wir haben die Möglichkeit, umsonst zu studieren und uns verschiedene Berufe auszusuchen. Und wir leben in Frieden und einem Wohlstand, der weltweit betrachtet schon sehr einzigartig ist.

Das alles nehmen viele Menschen nicht mehr wahr. Sie sind in dieser Problemorientierung im Denken so gefangen, dass sie keine Lösung mehr sehen. Durch die vielen Krisen ist eine Angstgesellschaft entstanden. Über die Sozialen Medien, die aus meiner Sicht eine verheerende Wirkung auf alle Gesellschaften haben und die ich für eine der schlimmsten Bedrohungen für eine offene Gesellschaft halte, werden die Ängste noch verstärkt, indem Geflüchtete oder Migranten polarisierend und polemisierend als Täter dargestellt werden. Eine Angstgesellschaft ist schwer in eine positive Richtung zu bewegen.

Das ist ein Thema, das die Presse angeht, aber auch die Politik. Ich kann das Jammern der Politik nicht mehr ertragen, wie schrecklich alles gerade ist. Das verursacht mit, dass sich die Menschen überhaupt nicht mehr sicher fühlen. Politik muss weitsichtig sein und sich nicht von einer Wahl zur nächsten treiben lassen.

Statt vorzulegen, wie viel eingespart worden ist im Bereich der Integrationsarbeit, sollte Politik mit Selbstbewusstsein sagen: Wir machen weiter, weil wir wollen, dass diese Gesellschaft funktioniert. Wir gehen diesen Weg stolz und erhobenen Hauptes weiter, weil wir wissen, dass das wichtig ist.

Was braucht es dafür aus Ihrer Sicht konkret vor Ort?

Vaccaro-Jäger: Integration ist eine Aufgabe, die Jahrzehnte braucht. Wenn die akute Krisensituation vorbei ist, können die Menschen erst in einer gewissen Normalität ankommen. Das heißt, wir brauchen lange, intensive, zugewandte Betreuung. Wichtig wäre zum Beispiel, dass Stellen nicht gleich gestrichen oder gekürzt werden, weil die Menschen ihren Status haben oder die Geflüchtetenzahlen gesunken sind.

Van Dülmen: Wenn wir die akuten Probleme gelöst haben, geht es in die nachhaltige Integration. Angefangen bei Sprachkursen, da war eine Zeit lang ein großer Engpass. Aber auch durch Kitaplätze, Schule, Bildung. Es gibt ja „Leben in Deutschland“, die Vorbereitungskurse auf den Integrationstest. Das ist aber nur ein Anfang. Darauf müsste man aufbauen.

Vaccaro-Jäger: Wie kann jemand, der aus einer völlig anderen Welt kommt, verstehen, wie wir ticken? Indem wir zum Beispiel immer wieder anbieten oder sogar verpflichtend machen, dass Leute sich mit diesem kulturellen Kanon auseinandersetzen, dass man in Kursen das Für und Wider bestimmter kultureller Werte diskutiert. Dass man erläutert: Woraus sind die entstanden? Damit man eine Grundakzeptanz hat.

Van Dülmen: Ich finde es immer schön, zu sehen, wie gut Kinder angekommen sind, die vor zehn Jahren mit ihrer Familie kamen und mittlerweile volljährig sind. Oft sind das sehr reife, selbstbewusste junge Menschen, die gut Deutsch sprechen und auch enorme Verantwortung für die Familie übernehmen. Die werden auf jeden Fall ihren Weg hier gehen.

TAGEBLATT-Serie

„Wir schaffen das“: Der Satz von Angela Merkel vom 31. August 2015 ist in Deutschland zum Synonym der großen Flüchtlingskrise geworden. Zehn Jahre danach nimmt das TAGEBLATT dies zum Anlass für eine Serie, die in loser Folge erscheint. In Gesprächen mit Zeitzeugen stellen wir die Frage: Was haben wir heute geschafft? Und was ist noch zu tun?

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