TAxthiebe an der Tür: Warum Himmelpfortener Mieter mit der Angst leben müssen

Die Axthiebe haben Spuren hinterlassen. Sichtbar an der Wohnungstür, vor allem aber bei den Mietern des Himmelpfortener Mehrfamilienhauses. Foto: Klempow
Die Mieter in einem Himmelpfortener Mehrfamilienhaus wissen nicht, ob ihr Nachbar wieder ausrastet. Sie müssen ihre Angst und die Gesetzeslage aushalten.
Himmelpforten. Der Schrecken dieser Januar-Nacht bleibt. In der Wohnung im zweiten Stock wird es laut. Michael Cordes und seine Lebensgefährtin hören, wie Nachbar S. über ihnen anfängt zu poltern. Sie kennen das, immer wieder fällt er durch seine nächtlichen Ausbrüche nach gleichem Muster auf. Zuerst erklingen Kinderlieder, dann schlägt die Stimmung um. Auch an diesem Abend. Gegen 22.30 Uhr poltert es ungewohnt heftig. Wenig später ein Klirren. „Da hat er sein Küchenfenster eingeschlagen.“
Nachbar zertrümmert Scheiben der Haustür
Plötzlich dringt Lärm aus dem Treppenhaus. Cordes tritt vor seine Wohnungstür, sieht, wie der Mann oben die Kabelkanäle im Flur abreißt. Cordes spricht ihn an und sagt „Ich ruf die Polizei“. Da stürmt Nachbar S. die Treppe herunter, in der einen Hand eine Axt, in der anderen eine Waffe.
Cordes schlägt die Wohnungstür hinter sich zu, schließt ab, stemmt sich dagegen. Axthiebe auf die Tür. Die Bedrängten in der Wohnung rufen die Polizei. Die Tür hält. Der Nachbar lässt ab, zertrümmert unten die Scheiben der Eingangstür. Kehrt mit der Axt zu Cordes’ Tür zurück. Der zweite Anruf bei der Polizei, sie ist unterwegs. Bevor sie eintrifft, rast S. in seinem Auto davon.

Die Türoberfläche ist zwar zersplittert, aber die Wohnungstür hielt stand. Foto: Klempow
Was dann passiert, weiß die Polizei: Der 36-Jährige fährt nach Hammah, durchbricht eine Baustellen-Absperrung und baut einen Unfall. Die Beamten finden ihn an einer Bushaltestelle, sprechen ihn an. Er reagiert „plötzlich verbal aggressiv“ und schlägt einer Polizistin mit der Faust ins Gesicht. Die junge Beamtin geht verletzt zu Boden.
Alkohol und „berauschende Mittel“
Der 36-Jährige wird überwältigt. Der „unter Alkohol und vermutlich unter berauschenden Mitteln stehende Beschuldigte“, so die Polizei, wird ins Stader Elbe Klinikum in die psychiatrische Abteilung eingeliefert. Die Polizei ermittelt wegen „tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung, Sachbeschädigung und Gefährdung des Straßenverkehrs sowie Trunkenheit im Verkehr“.
An besagtem Wochenende ist für die geschockten Nachbarn an Schlaf nicht mehr zu denken. Wenige Tage später sei der Nachbar wieder in der Wohnung zu hören gewesen, sagt Michael Cordes. Randaliert habe er seither nicht - aber jedes Geräusch fährt den Nachbarn in die Glieder, die Angst vor einem neuen Gewaltausbruch, mutmaßlich nach Drogenkonsum, lässt sie kaum noch zur Ruhe kommen.
Verbale Angriffe und Drohungen
Michael Cordes lebt seit sechs Jahren in diesem Haus. Eine ruhige, familiäre Gegend. Vor etwa zweieinhalb Jahren hätten die Probleme mit S. begonnen, auch mit ersten verbalen Angriffen und Drohungen.
„Ich kenne ihn ja von früher als netten Kerl. Ich hatte keine Angst, aber Respekt“, sagt Cordes. Doch es wurde von Monat zu Monat schlimmer. Der Nachbar schien Wahnvorstellungen zu haben, schrie nachts über Stunden. Rasierklingen und Patronenhülsen landeten aus dem oberen Stock im Garten.

Der Eingangsbereich des Mehrfamilienhauses kurze Zeit nach der Januar-Nacht. Der randalierende Nachbar S. hatte die Scheiben zertrümmert. Foto: Klempow
Cordes wirkt besonnen. Als die Situation im letzten Frühjahr schon ein Mal eskalierte, schritt er ein. Nach Randale in der Nacht wollte S. morgens um 7.30 Uhr mit dem Auto vom Hof. Cordes versperrte den Weg. „Ich wollte nicht, dass er in seinem Zustand fährt, wenn die Kinder auf dem Weg zur Schule sind.“ S. bretterte trotzdem los, Cordes fuhr hinterher, um ihn im Blick zu behalten. Die alarmierte Polizei nahm S. am Stader Hafen in Gewahrsam - „seitdem hatte er mich auf dem Kieker“.
Hohe Hürden für Unterbringung in die Psychiatrie
Die Axtschläge im Januar haben Spuren hinterlassen, längst nicht nur an seiner Wohnungstür. Die Vermieter sollen eigene rechtliche Schritte eingeleitet haben. S. sei auch im Ort auffällig, bedrohe Menschen - er brauche dringend Hilfe, sagt Cordes. Das Problem: Der Betroffene muss die Hilfe selbst wollen. Die Hürden für die Unterbringung in einer Therapie für psychisch Kranke, auch Suchtkranke, sind hoch.
Jährlich 7 Millionen Euro
Landespsychiatrieplan soll Versorgung verbessern
Wer sich bedroht fühlt oder belästigt, sollte „immer die Polizei rufen“, sagt deren Sprecher Rainer Bohmbach. Eine erste Maßnahme im akuten Fall sei, diesen Menschen in Gewahrsam zu nehmen und in der Psychiatrie vorzustellen, um die Ursache für sein Verhalten zu klären.
Bleibt er als psychisch Kranker in der Psychiatrie oder ist er haftfähig für eine Nacht in Polizeigewahrsam? Wer freiwillig im Krankenhaus bleibt, darf allerdings auch gehen, wann er will. „Wenn es keine Einweisung gibt, bleibt er bei uns, bis er sich beruhigt hat.“ Maximal für 48 Stunden.
Hilfe durch Sozialpsychiatrischen Dienst
Die Polizei informiert außerdem den Sozialpsychiatrischen Dienst (SpDi) des Landkreises. Pro Woche gehen dort zwischen fünf und zehn solcher Meldungen ein, jede wird bearbeitet, sagt Landkreis-Sprecherin Nina Dede.
„Der SpDi-versucht Kontakt mit der betroffenen Person aufzunehmen“ und ziehe bei Bedarf auch die Polizei hinzu. Knapp 650 Fälle mit circa 4000 Kontakten sind das jährlich. Informieren können den Sozialpsychiatrischen Dienst auch Angehörige oder wie im Himmelpfortener Fall Nachbarn.
Geleitet wird der Dienst von einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Alle psychiatrischen Erkrankungen können Grundlage für das Hilfsangebot sein“, so Dede. Das Elbe Klinikum Stade sei für alle psychiatrischen Erkrankungen zuständig, dazu zählen auch Suchterkrankungen. „Ziel muss es sein, eine Einweisung durch eine Ärztin oder einen Arzt auf freiwilliger Basis zu erreichen“, so die Landkreis-Sprecherin.
Amtsgericht mit Bereitschaftsdienst
Eine Behandlung zu erzwingen, hat hohe juristische Hürden. Zwei Gesetze regeln eine solche Maßnahme. Eine Unterbringung nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) gilt für Menschen, von denen infolge ihrer psychischen Krankheit oder seelischen Behinderung „eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für sich und/oder andere ausgeht ...“.
Es bedarf eines Antrags der Ordnungsbehörde und eines ärztlichen Attests, um das Amtsgericht einzuschalten. Das hat für dringende Entscheidungen einen Bereitschaftsdienst. Der oder die Richterin prüft den Fall. Sieht sie eine Unterbringung als notwendig an, folgt eine persönliche Anhörung. „Erst nach der persönlichen Anhörung wird abschließend entschieden“, so eine Amtsgerichtssprecherin. Die Unterbringung ist auf sechs Wochen begrenzt.
Erheblicher Eingriff in Grundrechte
Oft regten in diesen Fällen auch Ärzte der Psychiatrie die Einrichtung einer Betreuung beim zuständigen Amtsgericht an. Dann ist eine Unterbringung auch nach dem BGB möglich. Neben der Erkrankung muss dann auch eine akute Eigengefährdung vorliegen. Notwendig ist dann unter anderem ein psychiatrisches Gutachten.
„In beiden Fällen müssen wir Richter bei der Entscheidung über die Unterbringung auch immer die Verhältnismäßigkeit prüfen, da es sich bei einer Freiheitsentziehung immer um einen ganz erheblichen Grundrechtseingriff handelt, der nicht leichtfertig beschlossen wird“, betont die Gerichtssprecherin.
Entzug als Bewährungsauflage
Eine verpflichtende Entzugstherapie kann als Bewährungsauflage bei Verurteilung in einem Strafverfahren verhängt werden. Ob es Strafverfahren nach den Vorkommnissen im Januar geben wird, steht nicht fest. Oberstaatsanwalt Kai Thomas Breas verweist darauf, dass es eine gewisse „Erheblichkeit“ einer Straftat für ein Verfahren vor dem Landgericht brauche, um Menschen auch nach dem Strafgesetzbuch unterzubringen. Noch liegen die Ermittlungsergebnisse der Polizei im Fall S. nicht bei der Staatsanwaltschaft vor.
Eine juristische Möglichkeit ist auch ein Gewaltschutzverfahren durch das Gericht. Michael Cordes hat über seine Anwältin eine solche Verfügung des Amtsgerichts Stade erwirkt. Seinem Nachbarn S. ist damit das Betreten von Cordes‘ Wohnung untersagt, er darf sich Cordes nicht weiter als zehn Meter nähern. Das kann auch durch die Polizei durchgesetzt werden.
Stimmung im Haus ist angespannt
„Ich wollte versuchen, was ich kann, um mich und meine Familie zu schützen“, sagt Cordes, aber es klingen Zweifel durch. Und er sorgt sich auch um die anderen Hausbewohner. Die Stimmung sei angespannt, „die Mitbewohner im Haus sind psychisch angeschlagen“, so Cordes. „Mir geht es um eine Warnung“, sagt er. „Die Gesetzeslage schützt uns nicht“, meint er. „Warum muss immer erst etwas passieren?“