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Handball

TBSV-Urgestein Michael Jungblut kämpft sich zurück in ein neues Leben

Mai 2023: Michael Jungblut hat sich inzwischen an sein neues Leben gewöhnt.

Mai 2023: Michael Jungblut hat sich inzwischen an sein neues Leben gewöhnt. Foto: Scholz

Lange Zeit stand es schlecht um Michael Jungblut (73). Er lag im Koma, hatte ein Bein verloren. Doch der langjährige Betreuer des Buxtehuder SV kämpfte sich in ein neues Leben - auch dank seiner Handball-Familie.

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Von Tim Scholz
Sonntag, 24.12.2023, 19:20 Uhr

Buxtehude. Michael Jungblut öffnet die Schublade seines Schreibtischs und zieht ein Buch heraus. Er blättert darin. Da! Mit dem Zeigefinger deutet er auf ein Schwarz-Weiß-Foto. Ein Mann wie ein Bär. Dunkler Schnurrbart, lichtes Haar, die Arme vor dem runden Bauch verschränkt, der Blick fokussiert, tatkräftig.

„Kennste den?“, fragt Jungblut lächelnd.

Es ist: Jungblut selbst.

Das Foto entstand Mitte der Neunziger. In einem Buch über Buxtehuder Persönlichkeiten hat er ein eigenes Kapitel. Jungblut, der Handball-Betreuer, der schroff sein konnte, aber auch sehr herzlich. Jungblut, der die Handballgeschichte in Buxtehude mitschrieb. Lange her.

Januar 2023. Jungblut ist schmal geworden, die Haare grau, die Stimme zittrig. Mit dem Rollstuhl fährt er in den Aufzug einer Buxtehuder Seniorenresidenz. Für die Ärzte ist es ein Wunder, dass er vor einigen Monaten hier einzog.

Es geht um Leben und Tod

Zweiter Stock. Jungblut setzt den Rollstuhl mit den Füßen in Bewegung, fährt einen langen Gang entlang. Vorbei an einer Frau mit schlohweißem Haar, die mit dem Kopf wackelt. Er biegt nach rechts ab, öffnet eine Tür. „Das ist mein Reich.“

Sein Reich ist sechs auf vier Meter groß. Hier hat er alles: Kleiderschrank, Bett, Kühlschrank, Schreibtisch, Computer, Fernseher, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Badezimmer und ein paar Erinnerungsstücke. Auf der Heizung steht eine gerahmte Urkunde von 1994, als der BSV den Europapokal gewann.

„Das ist mein Reich“: Jungblut wohnt in einer Buxtehuder Seniorenresidenz.

„Das ist mein Reich“: Jungblut wohnt in einer Buxtehuder Seniorenresidenz. Foto: Scholz

Jungblut leitete viele Jahre den Pflegedienst auf der Intensivstation des Buxtehuder Krankenhauses. Der Umgang mit Leben und Tod gehörte für ihn zum Alltag. Doch letztes Jahr kehrte er auf seine alte Station zurück - als Patient. Diesmal ging es um sein Leben.

Heimtückische Krankheit

Jungblut ist Diabetiker. Immer wieder musste er wegen Entzündungen behandelt werden. „Diabetes ist sehr heimtückisch“, sagt BSV-Mannschaftsarzt Hans-Wolfram Körner. Jungblut erlaubt ihm, Auskunft über seine Erkrankung zu geben. Sie waren Kollegen im Krankenhaus, sind befreundet.

Das Gefährliche: Diabetes kann Nerven und Blutgefäße schädigen, die Erkrankten nehmen Schmerzen viel geringer war. So könne aus einer vermeintlich harmlosen Hautverletzung schnell ein Waldbrand entstehen, sagt Körner.

Im Januar 2022 bekommt Jungblut Besuch von BSV-Mitarbeiterin Christin Becking. Eigentlich wollen sie und „Michel“, wie er überall genannt wird, nur ein bisschen plaudern. Doch Becking fällt eine entzündete Stelle an Jungbluts Fuß auf. Noch flachsen sie, er könne schon mal die Tasche fürs Krankenhaus packen. Becking ahnt Schlimmes, informiert Körner.

Am nächsten Morgen meldet sich Jungblut, er habe höllische Schmerzen. Becking fährt ihn ins Krankenhaus. „Michel hatte tatsächlich gepackt“, sagt sie mit Tränen in den Augen.

Handball ist sein Leben

Weggefährten erzählen, dass Jungblut ein Mann war, der die Bedürfnisse anderer oft über die eigenen stellte. Wenn sich eine Spielerin verletzte, begleitete er sie, wenn nötig, ins Krankenhaus, brachte ihr nachts dringend benötigte Medikamente.

Nur leider, sagt einer, habe Jungblut nicht immer so gut auf sich aufgepasst. 2010 tauchte er nach einer Operation entgegen dem Rat der Ärzte in der Halle auf, um beim Europapokal-Triumph des BSV dabei zu sein. Wenige Tage später feierte er mit dem Team auf Mallorca. Jungblut sieht es so: „Das größere Gesundheitsrisiko wäre gewesen, diesen Tag zu verpassen.“ Handball ist sein Leben.

Selbst war Jungblut nie ein Sportler. Er wuchs an der Ostsee auf, fuhr acht Jahre bei der Marine zur See. Danach machte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger, heiratete, wurde schnell Vater. Die Ehe hielt ein halbes Jahr.

Michael Jungblut (rechts), hier mit dem Sportjournalisten Jörg Wontorra, war 35 Jahre Betreuer beim BSV.

Michael Jungblut (rechts), hier mit dem Sportjournalisten Jörg Wontorra, war 35 Jahre Betreuer beim BSV. Foto: Verein/nomo

Zum Handball kam er, weil seine Frau in Bad Schwartau spielte. Jungblut wurde Betreuer und fiel damals in Buxtehude auf. Denn in den Achtzigern legte er unfreiwillig den Grundstein für den Aufstieg des BSV in die zweite Liga.

Er hatte gegen die Wertung eines Spiels seiner Schwartauer Damen Protest eingelegt. Dem Gegner wurden Punkte aberkannt, der BSV profitierte und stieg auf. 1987 kam Jungblut zum BSV und blieb 35 Jahre Betreuer.

Nur die Amputation kann ihn retten

Januar 2022: Die Entzündung hat auf den ganzen Körper übergegriffen. Das linke Bein wird nicht mehr durchblutet. Werde der Unterschenkel nicht amputiert, sagt Chirurg Körner, könne er schlimmstenfalls an einer Sepsis sterben. „Es hieß: Bein ab oder tot“, sagt Jungblut und macht eine Pause.

Körner hat schon des Öfteren Beine amputieren müssen, aber diese Situation ist auch für ihn außergewöhnlich. „Michel ist jemand, der mir sehr am Herzen liegt.“ Knapp eine Stunde dauert die Amputation. Körner und sein Team am Elbe Klinikum kämpfen um Jungbluts Leben.

Im Oktober 2022 besuchte Jungblut erstmals wieder ein BSV-Spiel und freute sich mit der Mannschaft.

Im Oktober 2022 besuchte Jungblut erstmals wieder ein BSV-Spiel und freute sich mit der Mannschaft. Foto: Jan Iso Jürgens/IsoluxX Fotografie

In den folgenden Tagen versagen die Nieren. Jungblut wird ins künstliche Koma versetzt und beatmet. „Das Eis unter seinen Füßen war sehr dünn. Wir mussten mit dem Schlimmsten rechnen“, sagt Körner.

Jungblut erinnert sich, im Februar einmal aufgewacht zu sein. „Und dann war es schon Ende Mai.“ Das ist seine nächste Erinnerung.

Beim BSV bangen sie um ihn. „Er war der Mann für alle Fälle“, sagt Manager Peter Prior. Jungblut organisierte die Auswärtsfahrten, saß vorne rechts im Bus. Kaum einer kannte sich in sportrechtlichen Fragen so gut aus wie er. Im Spiel mischte er sich jedoch nicht in sportliche Belange ein. Allenfalls reichte er dem Trainer die grüne Karte für die Auszeit, dazu ein vielsagender Blick. Neun Bundesligatrainer hatte der BSV bis dahin, aber nur diesen einen Betreuer.

Umzug ins Seniorenheim

Ärzte und Pfleger stabilisieren seinen Zustand. Die Nieren arbeiten wieder. Doch der Weg in den Alltag ist lang. Jungblut muss lernen, selbstständig zu atmen. Mit Logopäden arbeitet er an seiner verwaschenen Aussprache. Er kommt in die Reha, übt das Gehen mit der Prothese. Körner: „Michel ist ein verdammt zäher Bursche.“

Ein selbstständiges Leben ist nicht mehr möglich. Jungblut zieht in die Seniorenresidenz. Die Buxtehuder Handball-Familie hilft ihm dabei. Becking und ehemalige Spielerinnen räumen seine Wohnung aus, Ex-Trainerin Heike Axmann schneidet ihm die Haare, aus der Mannschaft kommt Besuch. „Die ersten Wochen waren nicht leicht“, sagt Jungblut. Doch nun hat er sich an sein neues Leben gewöhnt.

Mit seinem neuen Elektrorollstuhl fährt Jungblut jetzt zu den Spielen in die Halle Nord.

Mit seinem neuen Elektrorollstuhl fährt Jungblut jetzt zu den Spielen in die Halle Nord. Foto: Scholz

„Ich glaube, wegen der Sache mit meinem Bein hätte ich vielleicht ein bisschen anders gelebt. Aber ich muss sagen, so wie ich gelebt habe, kann ich nicht meckern. Ich habe gut gelebt.“

„Ich fühle mich viel freier“

Mai 2023. Jungblut wartet vor der Seniorenresidenz, er trägt eine BSV-Trainingsjacke und sitzt auf seinem neuen Elektrorollstuhl. „Ganz einfach: rechts Gas, links Stopp.“ In einer Stunde beginnt das BSV-Spiel.

Jungblut düst die Unterführung am Bahnhof hinunter. Als es auf der anderen Seite wieder nach oben geht, unterbricht er kurz: „So, ich muss mal eben Tempo machen.“ Mit sechs Kilometern pro Stunde braust Jungblut davon. „Ich fühle mich gut. Ich fühle mich viel freier“, sagt er. Jungblut passiert die Festhalle, das Schulzentrum, parkt neben dem Eingang der Halle Nord. Ordner und Fans begrüßen ihn, als wäre er nie weg gewesen.

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