TBaujahr 1795: Johann Tiemann rettet Stader Reetdachhaus vor dem Abriss

Silke und Johann Tiemann bewahren nicht nur das alte Haus, sondern auch die Geschichten, die es zu erzählen hat. Foto: Stehr
Seit mehr als 200 Jahren steht ein kleines Reetdachhaus am Rande der Schwingewiesen. Johann Tiemann wurde dort geboren und kann Außergewöhnliches zu dem Gebäude erzählen.
Stade. Erhalten oder abreißen? Diese Frage stellte sich Anfang der 1970er Jahre angesichts des damals heruntergekommenen Reetdachhauses, in dem Johann Tiemann 1947 zur Welt kam und zu dem rund sieben Hektar Grünland gehören.
Der Älteste von sechs Geschwistern wollte zwar nie den Hof übernehmen und studierte lieber Theologie - das Haus Baujahr 1795, das 1853 von seinen Großeltern übernommen wurde, wollte er aber dennoch retten. „Es ist für mich mit vielen Erinnerungen verbunden und hat schon viel mitgemacht“, sagt Tiemann, der vor seiner Pensionierung 20 Jahre lang als Schulpastor an der BBS II in Stade tätig war.

Johann Tiemann rettete auch die Grabsteine seiner Vorfahren vom Friedhof und stellte sie am Haus auf. Foto: Stehr
Gemeinsam mit Studienfreunden verbrachte Tiemann mehrere Jahre mit der Renovierung. Unter anderem wurden das Plumpsklo stillgelegt und eine Toilette eingebaut, der Kamin im Stil von früher neu gebaut, einige der dunklen Eichenbalken ausgetauscht, das Dach von einem Reetdachdecker partiell erneuert und die große Tür an der vorderen Giebelseite durch ein Fenster ersetzt.
Deutsche und französische Soldaten im Haus
Vor der großen Tür haben sich seinerzeit schon Tiemanns Großeltern mit Pferd und Wagen ablichten lassen. 1945 posierten deutsche Soldaten vor dem Haus, die eine Zeit lang in der Scheune untergebracht waren und sich über das Ende des Krieges freuten. So wurde es Tiemann erzählt.

1945 wurden deutsche Soldaten vor dem Haus abgelichtet. Foto: Stehr

Opa Steffens mit Pferdekarren vor dem Haus. Foto: Stehr

Großmutter Steffens vor dem Haus. Foto: Stehr
Dass das Haus zur Zeit der Napoleonischen Kriege (1792 bis 1815) irgendwann auch mit französischen Soldaten belegt war, beweist ein Löffel, den Johann Tiemann vor einigen Jahren beim Pflanzen eines Baumes im Garten ausgebuddelt hat. Laut Stadtarchäologe Andreas Schäfer wurde der Löffel um 1795 in Frankreich produziert. „Der Soldat, der den Löffel benutzte, musste wohl von hier weiter nach Österreich in den Krieg ziehen“, vermutet Tiemann.

Beim Pflanzen eines Baumes fand Johann Tiemann diesen Löffel, der um das Jahr 1795 in Frankreich hergestellt und wohl von einem Soldaten nach Stade gebracht wurde. Foto: Stehr
Während seiner Kindheit lebten die Tiere noch mit im Haus und spendeten Wärme in kalten Nächten, erinnert sich Johann Tiemann. Die Tiere standen auch nebenan, wenn ein Verstorbener im Wohnzimmer aufgebahrt wurde. So hat Tiemann es noch mit seiner Großmutter erlebt, der er zum Abschied Blumen in den offenen Sarg legte.
Fördermittel
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Das Wasser kam direkt aus einem gegrabenen Brunnen am Haus. Wer Durst hatte, ging zum Eimer, der an einer Kette am Haus hing. Später wurde ein neuer Brunnen gebohrt. Bis heute ist das Haus nicht an das öffentliche Wasser- und Abwassernetz angeschlossen.
Das Alte mit dem Neuen verbinden
Seit 1995 lebt Johann Tiemann mit seiner Frau Silke, die als Lehrerin an der Realschule Camper Höhe arbeitet, wieder selbst in seinem Geburtshaus am Ende der Sackgasse Vor dem Berg. Vorher wohnten unter anderem mehrere Menschen als Kommune dort. Zum Schlafen wurden damals auch die engen Butzen unter der Decke im Wohnzimmer genutzt, berichtet Tiemann. Diese Butzen dienen heute als Stauraum im Wohnbereich.

In diesen Butzen schliefe einst die Bewohner. Heute bieten sie Stauraum im Wohnbereich. Foto: Stehr
„Unser Ziel war es immer, das Alte mit dem Neuen zu verbinden“, sagt Silke Tiemann. Besonders gern sitzt sie in ihrer Leseecke mit Blick auf die Holztür, die 1795 eingebaut wurde und vermutlich noch älter ist. Historisch sind auch die Holzstühle im Essbereich, die Oma Steffens 1911 mit in die Ehe und ins Haus brachte. Alte Kommoden sowie Werkzeuge und Alltagsgegenstände aus vergangenen Zeiten haben außerdem einen Platz im Wohnbereich gefunden. Zum Beispiel eine Art Glätteisen, mit dem sich Oma Steffens ab und an gehörig die Haare versengte.

Diesen Stuhl brachte Tiemanns Großmutter 1911 mit in die Ehe und ins Haus. Foto: Stehr

Diese Tür wurde 1795 eingebaut und stammt wohl aus einem anderen Bauernhaus, vermutet Johann Tiemann. Foto: Stehr
Geheizt wird immer noch überwiegend mit Holz, Gas aus einem Tank kann zugeschaltet werden. „Der Energieverbrauch in einem alten Haus ist hoch und man muss viele Kompromisse eingehen“, sagt Silke Tiemann. 2010 haben sie und ihr Mann das Haus energetisch sanieren und unter anderem neue Fenster und Dämmung einbauen lassen. 2019 wurde eine Photovoltaik-Anlage auf dem Nebengebäude installiert.

Johann Tiemann zeigt die Heizungsanlage des Hauses. Foto: Stehr
Eine Herausforderung sei auch, dass die Räume alle unterschiedliche Höhen- und Temperaturniveaus hätten, sagt Silke Tiemann. Die Decken seien teilweise niedrig, die Fenster klein und bei Sturm sei es manchmal richtig gruselig. Trotzdem schätzen die Tiemanns das Leben in der Natur, hatten früher sogar Schafe und Hochlandrinder. Inzwischen gibt es aber nur noch ein paar Hühner und zwei Katzen. Um die Pflege des Grünlands kümmert sich der 26-jährige Sohn des Ehepaars. Vermutlich wird er das Haus übernehmen und die Geschichte des Gebäudes um einige Kapitel erweitern.

Silke und Johann Tiemann leben seit 1995 gemeinsam im Reetdachhaus Baujahr 1795. Foto: Stehr