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Cold Cases

TBrisantes Dokument der Polizei: Wichmann könnte noch mehr Frauen ermordet haben

Eine heute um die 60 Jahre alte Cuxhavenerin erzählt von einem Vorfall aus dem Spätsommer 1977, als sie vom mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann mit dem Fahrrad in ihrem Heimatort Wehden verfolgt wurde. Hier guckt sie sich Bilder aus der Zeit an.

Eine heute um die 60 Jahre alte Cuxhavenerin erzählt von einem Vorfall aus dem Spätsommer 1977, als sie vom mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann mit dem Fahrrad in ihrem Heimatort Wehden verfolgt wurde. Hier guckt sie sich Bilder aus der Zeit an. Foto: Döscher

Lange hat die Polizei bezweifelt, dass der mutmaßliche Serienmörder Kurt-Werner Wichmann in der Region nach jungen Frauen gesucht hat. Jetzt liegt ein hoch brisantes Dokument vor. Es könnte noch viel mehr Opfer geben.

Von Christian Döscher Montag, 30.09.2024, 15:50 Uhr

Kreis Cuxhaven. Es sind 7 von insgesamt 34 Seiten. Dabei handelt es sich ganz offensichtlich um eine Operative Fallanalyse des Landeskriminalamts Niedersachsen. Diese befasst sich mit dem mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann. Dieser steht im Verdacht, mindestens fünf Menschen getötet zu haben. So wurde im Herbst 2017 die Leiche von Birgit Meier unter Wichmanns Garage gefunden. Sie war 1989 verschwunden.

Im selben Jahr wurden zwei Paare in der Göhrde, einem Waldgebiet bei Lüneburg, per Kopfschuss getötet. Wichmanns DNA findet sich auf dem Fahrersitz eines Autos der Göhrde-Opfer. Er hat sich in Untersuchungshaft 1993 das Leben genommen.

Fallanalyse der Polizei - Dokumente liegen der „Nordsee-Zeitung“ vor

Auf jeder der sieben Kopien steht „LKA Niedersachsen“ und „OFA“, welches für Operative Fallanalyse steht. Einzelne Dokumente der Analyse liegen der "Nordsee-Zeitung" (NZ) vor. Alles deutet darauf hin, dass sie echt sind. Nicht erkennbar ist, aus welchem Jahr die OFA ist. Sie dürfte im Zusammenhang mit dem Fall Meier stehen und damit etwa aus dem Jahr 2018 stammen.

Reinhard Chedor im Gespräch mit einer Frau, die sich sicher ist, dass sie Mitte der 70er Jahre im Landkreis Cuxhaven zu Kurt-Werner Wichmann ins Auto gestiegen ist.

Reinhard Chedor im Gespräch mit einer Frau, die sich sicher ist, dass sie Mitte der 70er Jahre im Landkreis Cuxhaven zu Kurt-Werner Wichmann ins Auto gestiegen ist. Foto: NDR/Steve Kfoury

Mehrere Frauen haben der NZ in den vergangenen Monaten von unheimlichen Begegnungen mit Wichmann berichtet. Befragt wurden sie allesamt vom früheren Hamburger LKA-Chef Reinhard Chedor, der damals den Fall Birgit Meier mit aufgeklärt hat. Er ist überzeugt, dass Wichmann für weitere Morde verantwortlich ist. Die Polizei sagt, dass es dafür keine Beweise gibt, auch nicht bei den sogenannten Disco-Morden. Zwischen 1977 und 1986 sind im Cuxland acht Frauen verschwunden oder getötet worden.

Polizei räumt ein: Wichmann war im Kreis Cuxhaven unterwegs

Aufgrund der Berichterstattung der NZ räumen die Ermittler in Cuxhaven und Lüneburg zwar mittlerweile ein, dass Wichmann im Landkreis Cuxhaven unterwegs war. Beweise für strafbare Handlungen gebe es aber nicht, so die Polizei. Für Fallanalytiker des LKA steht jedenfalls fest, dass „aufgrund der persönlichkeitsstrukturellen Voraussetzungen und der bisherigen Delinquenzgenese“ es zweifellos vorstellbar sei, „dass Herr Wichmann für weitere schwere Gewalt-, Sexual- und/oder Tötungsdelikte infrage kommen könnte“. Das Papier bietet weitere interessante Analysen, auch zu möglichen weiteren Tatorten. Dazu später mehr.

In der OFA wird die Einschätzung deutlich, dass Wichmann Fehlversuche beim Aufgreifen seiner Opfer gehabt haben wird oder seine Intention nicht immer die Tötung seiner Opfer gewesen sein muss.

Aktenkundig ist, dass Wichmann bis zu einer Verhaftung im November 1970 nach versuchtem Mord an einer Anhalterin einige Monate im Raum Cuxhaven für die damalige Firma Leppert aus Lüneburg Essig- und Senfprodukte ausgeliefert hat; insbesondere auch an sogenannte Tante-Emma-Läden in abgelegenere Gegenden in dieser Region.

18 Hinweise auf Wichmann aus dem Raum Cuxhaven

Durch bundesweite Berichterstattungen unter anderem in der NZ, Podcasts und TV-Reportagen haben sich laut Chedor mehr als 40 Hinweisgeberinnen und zwei Hinweisgeber gemeldet, die Erfahrungen mit Wichmann gemacht haben.

Chedor fasst für die NZ die Erkenntnisse zusammen:

Bisher haben sich aus dem Raum Cuxhaven 16 Hinweisgeberinnen und ein Hinweisgeber mit insgesamt 18 Vorfällen beziehungsweise Erlebnissen gemeldet. In einem Fall sollte eine junge Frau zweimal, 1982 und 1984, zum Einsteigen in einen Mercedes bewegt werden.

Dieses Bild zeigt den mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann im August 1968 mit einem Kleinkalibergewehr. Im gleichen Jahr wird Gründonnerstag (11. April) in Lüneburg die 38-jährige Ilse Gerkens erschossen. Es gab Hinweise auf Wichmann.

Dieses Bild zeigt den mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann im August 1968 mit einem Kleinkalibergewehr. Im gleichen Jahr wird Gründonnerstag (11. April) in Lüneburg die 38-jährige Ilse Gerkens erschossen. Es gab Hinweise auf Wichmann. Foto: privat

Die Hinweise aufgrund der Berichterstattung in den Medien datieren von 1974 bis 1986.

Sieben Frauen sind immer noch verschwunden

Im Raum Cuxhaven sind zwischen 1977 und 1986, meistens nach Diskothekenbesuchen, sieben junge Frauen bis heute spurlos verschwunden. Eine achte Frau, Irene Warnke aus Ringstedt, wurde zwischen Bad Bederkesa und Lintig mit einer Kopfverletzung tot aufgefunden. Danach riss die Serie vermisster junger Mädchen in der Region ab.

In den meisten Fällen der aktuellen Hinweisgeberinnen ging es darum, die damals jungen Mädchen zum Einsteigen in das Fahrzeug des Täters zu bewegen.

• 6-mal wurde Kurt-Werner Wichmann ziemlich eindeutig von den Frauen erkannt.

• 8-mal war er „auf alle Fälle nicht“ oder „nicht“ auszuschließen.

• 4-mal wurde der Täter nicht erkannt, weil es zu dunkel war oder aufgrund der Situation nur das verfolgende Fahrzeug erkannt wurde.

Das bedeutet auch:

• In keinem Fall wurde Wichmann als Täter ausgeschlossen.

In den meisten Fällen handelte es sich um einen Mercedes, meistens weiß. Wichmanns Lieblingsmarke war Mercedes.

In drei Fällen waren zwei Männer im Fahrzeug; in einem dieser drei Fälle wurde Kurt-Werner Wichmann eindeutig erkannt wie auch der Fahrer. Die Identität des Mannes ist bekannt.

Taten alle entlang der Linie B6/A27

Die im Raum Cuxhaven vermissten Mädchen verschwanden von 1977 bis 1986 entlang der Linie B6/A27. Die eingegangenen Hinweise liegen ebenfalls in dieser räumlichen Linie. Schwerpunkt ist der Raum Loxstedt.

Klaus Püschel, früherer Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Hamburg, gilt als einer der bundesweit renommiertesten Rechtsmediziner.

Klaus Püschel, früherer Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Hamburg, gilt als einer der bundesweit renommiertesten Rechtsmediziner. Foto: Christian Charisius/dpa

Weitere Hinweise gingen aus dem Raum Soltau/Lüneburg und Münster/Oldenburg ebenso ein wie aus Süddeutschland und den neuen Bundesländern. Als Wichmann im März 1975 zum Beispiel nach Linkenheim-Hochstetten zog, geschahen dort Anhalterinnenmorde. In den Medien Rhein-Neckar-Morde und Heidelberg-Morde genannt, in dieser von solchen Straftaten bisher verschont gebliebenen Region. Deswegen spielen sogenannte Ankerpunkte bei den Recherchen eine ebenso wichtige Rolle.

Bundesweite Berichte - Hinweise aber aus Wichmanns Aktionsräumen

In der OFA wird darauf hingewiesen, dass kriminologische Studien davon ausgehen, dass eine Vielzahl von Serientätern ihre Taten in geografischer Nähe sogenannter Ankerpunkte begehen. „Entsprechende Ankerpunkte von Kurt-Werner Wichmann müssen daher zwingend weiter aufgehellt werden.“

„Es ist schon auffallend, dass trotz bundesweiter Ausstrahlung die Hinweise auf Kurt-Werner Wichmann aus den Regionen kommen, die die OFA des LKA Niedersachsen als potenzielle Aktionsräume von Kurt-Werner Wichmann eingeschätzt hat“, sagt Chedor.

So wurde im VW Golf von Wichmann umfangreiches Kartenmaterial gefunden, „das ebenfalls als Hinweis auf überregionale Aktivitäten gewertet werden kann“.

Genannt werden

  • Cuxhaven/Lübeck/Hamburg
  • Meppen/Osnabrück/Teile der Niederlande; Bielefeld/Paderborn/Göttingen
  • Düsseldorf/Bonn/Aachen
  • Münster/Essen/Dortmund
  • Karte des Hamburger Verkehrsverbundes
  • Hamburg und Umgebung mit HVV-Verkehrsnetz
  • Trittau mit Wanderwegen
  • Tostedt mit Wanderwegen
  • Baden-Württemberg
  • Großraumstadtplan Hamburg und Soltau-Lüneburg

Ist Wichmann für das Verschwinden dieser Frauen verantwortlich?

Serientäter Wichmann wollte Frauen nicht immer töten

Es bestätige sich auch die Einschätzung des LKA, dass es weitere Versuche und Fehlversuche von Wichmann - in Einzelfällen mit einem Mittäter - gab, Frauen in seine Gewalt zu bringen.

Es gab bei den Hinweisen auch Fälle, in denen Frauen mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Gewalt von Kurt-Werner Wichmann waren und nach sexuellem Missbrauch freigelassen wurden oder entkamen. Durch die Hinweise scheint sich auch die Einschätzung der OFA zu bestätigen, dass die Suche nach Opfern höchstwahrscheinlich zum Alltag von Wichmann gehörte. Zu Tag- und Nachtzeiten.

Die Polizei geht „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ davon aus, dass es sich „um einen Serientäter im Sinne eines Neigungstäters handelt“. Man geht auch davon aus, dass bei einer Tatspanne von mehr als 30 Jahren „Veränderungen im Tatverhalten sehr wahrscheinlich“ sind. Er weise „deutlich dissozial-psychopathische sowie narzisstische Persönlichkeitsmerkmale“ auf. Man geht schon nach ersten Recherchen davon aus, dass Verdachtsfälle „im hohen zweistelligen Bereich“ einbezogen werden müssten.

Taten auch außerhalb von Norddeutschland nicht auszuschließen

Aufgrund der hohen Mobilität Wichmanns und „bekannten Aufenthalten in anderen Bereichen Deutschlands, zum Beispiel Baden-Württemberg (Linkenheim-Hochstetten) sowie im Ausland (Spanien, ggfs. Schweiz), sind Taten außerhalb Norddeutschlands nicht auszuschließen“. Allein im Zeitraum zwischen März 1991 bis September 1992 legte er mit seinem Ford Probe etwa 36.000 Kilometer zurück.

Chedor: „Ziel ist es, weitere Hinweise zu generieren, die eine Präsenz und Handlungen von Kurt-Werner Wichmann, gegebenenfalls mit einem Mittäter, belegen.“ Bisher blieb es den jeweiligen Polizei-Dienststellen überlassen, ob sie den Verdachtsfällen nachgehen. Chedor hält solche „derart initiierten Ermittlungen ohne klare Verantwortung für nicht erfolgversprechend“. Er will weiter ermitteln, aber: „Private Recherchen können keinesfalls systematische konzeptionelle Ermittlungen der Polizei ersetzen“, so der frühere LKA-Chef.

Talk mit den Ermittlern

Chedor gehörte zum Kernteam um den ehemaligen stellvertretenden Hamburger Polizeipräsidenten Wolfgang Sielaff. Diese private Ermittlergruppe konnte das Verschwinden von Sielaffs Schwester Birgit Meier aufklären – etwas, woran die Behörden bis dahin gescheitert waren: 2017 fand das Team unter Wichmanns ehemaliger Garage die Knochen von Birgit Meier – knapp 30 Jahre nach deren Verschwinden. Chedor war selbst auch elf Jahre LKA-Chef in Hamburg.

Mit im Team war auch Klaus Püschel. Er leitete fast 30 Jahre das Institut für Rechtsmedizin in Hamburg. Püschel obduzierte unter anderem die Leiche des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, war auch oft im Cuxland und in Bremerhaven im Einsatz - und ist mit seiner Expertise bei sogenannten Cold Cases gefragt. Wie zum Beispiel den Disco-Morden. Acht junge Frauen verschwanden, eine wurde tot aufgefunden.

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