TBrutale Prügelattacke in Stade: „Ein Wunder, dass der Mann noch lebte“

Das Landgericht in Stade. Foto: dpa
Erste Zeugenaussagen im Fall des versuchten Totschlags an einem 57 Jahre alten Mann: Während die Rechtsmedizinerin von brutaler Gewalt gegen das Opfer berichtete, brachte dessen Betreuerin ein mögliches Tatmotiv in das Verfahren ein.
Stade. Eine röchelnde Gestalt auf dem Rücken liegend in einer dunklen Ecke der Straße, eine umgekippte Mülltonne, ein Gehstock und eine Geldbörse in der Nähe des Verletzten sowie ein Bewohner, der den Notruf abgesetzt hatte: Dieses Bild bot sich den beiden Polizisten, die am 6. September 2021 als erste am Tatort nahe der Tankstelle an der Harsefelder Straße eingetroffen waren.
Die Zeugenaussagen der Beamten vor der Schwurgerichtskammer des Stader Landgerichts bezogen sich vor allem auf den Zustand des Tatortes und die erste Wahrnehmung des Verletzten. Detaillierte Fragen, beispielsweise ob die Geldbörse offen gewesen sei oder wie genau der Verletzte im Vergleich zu den Häusern gelegen habe, konnte einer der beiden Zeugen auch mit Hilfe von Fotomaterial aus den Akten nicht genau beantworten.
Schädel-Hirn-Trauma und sämtliche Rippen gebrochen
Nach der Befragung des Anwohners in der Tatnacht, der den Verletzten gefunden hatte, und vergeblichen Versuchen, andere Augenzeugen zu finden, seien die Polizeibeamten ins Krankenhaus gefahren. Das Opfer war dort aufgrund seiner lebensgefährlichen Verletzungen in ein künstliches Koma gelegt worden.
Dass die Verletzungen lebensgefährlich waren, bestätigte die sachverständige Rechtsmedizinerin Prof. Dr. Dragana Seifert vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie sagte: „Ein Wunder, dass der Mann noch lebte.“ Die Forensikerin hatte ihr Gutachten nach Aktenlage erstellt. Danach hatte die Attacke auf den Geschädigten zu einem schweren Schädel-Hirn-Trauma geführt. Er hatte Hirnblutungen und einer seiner Augäpfel war irreparabel zerstört worden. Im Brustbereich waren beidseitig alle Rippen gebrochen und derart verschoben, dass die Lunge verletzt und Luft und Blut ausgetreten war.
„Das ist die letzte Stufe, bevor jemand für tot erklärt wird“
Ob die Verletzungen durch Fußtritte verursacht worden waren, konnte die Sachverständige nicht sagen, da sie das Opfer und eventuelle Trittspuren nicht selbst gesehen hatte. Fakt ist, so Seifert, dass der Geschädigte massivste Gewalt erfahren hatte. Es gebe die sogenannte Glasgow-Coma-Scale (GCS), nach der Notärzte den Bewusstseinszustand eines Verletzten bewerten. Sie reicht von 3 bis 15 Punkten. 15 Punkte, erklärte Seifert, besitzen wache, gesunde Menschen. Der Verletzte habe einen GCS von drei gehabt. „Das ist die letzte Stufe, bevor jemand für tot erklärt wird“, erklärte die Rechtsmedizinerin.
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Der Verletzte war ein sensibler Mensch mit psychischen Problemen, beschrieb die Zeugin. Sie war vor der Tat seine Bezugsperson und hat jetzt, wo er nicht mehr handlungsfähig ist, seine Betreuung übernommen. Sie berichtete, dass er sich seit Abbruch des künstlichen Komas im Wachkoma befinde, körperlich aber wieder stabiler sei und wieder selbst atmen könne
Angeklagter berichtet Arbeitskollegen von „großer Scheiße“
Nachdem sie als Zeugin schon entlassen worden war, hatte die Frau für das Gericht noch eine Anmerkung und wurde erneut in den Zeugenstand gerufen. Da der Verletzte die Angewohnheit hatte, sein gesamtes Geld Anfang des Monats von seinem Konto abzuheben und es bei sich zu tragen und seine Geldbörse nach seinem Auffinden leer war, regte sie an, seine Kontobewegung zu überprüfen und wies damit darauf hin, dass auch ein Raub im Raum stehen könnte.
Dass der Angeklagte der Täter sein könnte, ergab sich aus Videoaufnahmen der Tankstelle in der Nähe des Tatortes sowie der Auswertung seines Chatverkehrs, so der leitende Ermittler in seiner Zeugenaussage. Darin habe er einem Arbeitskollegen anvertraut, „in großer Scheiße“ wegen einer Schlägerei zu stecken.
Gegen die Zeugenaussagen der Beamten hatten beide Verteidiger einen Verwertungswiderspruch eingelegt, weil die Zeugen nach ihrer Ansicht eigene und fremde Wahrnehmungen verquickt hätten und die Sachvorträge damit für eine Verurteilung nicht zugrunde gelegt werden könnten. Die Kammer wies diesen Widerspruch ab.