TDebatte um die Wehrpflicht: „Eine Ohrfeige für die Gesellschaft“
Jürgen-Joachim von Sandrart war kommandierender General des multinationalen Korps Nordost und lebt in Hollern-Twielenfleth. Foto: Kay Nietfeld/dpa
Wehrpflicht bei Bedarf und im Losverfahren? Das TAGEBLATT hat Menschen nach ihrer Meinung gefragt: Ehemalige Bundeswehrsoldaten und Leser.
Landkreis. Jürgen-Joachim von Sandrart ist Generalleutnant im Ruhestand. Der 63-Jährige ist Soldat in zehnter Generation. Bis März 2025 war er Befehlshaber der NATO-Nordostflanke als kommandierender General des multinationalen Korps Nordost. Die Soldaten des NATO-Hauptquartiers kommen aus Dänemark, Polen und Deutschland und weiteren 18 NATO- Mitgliedstaaten. Von Sandrart wohnt in Hollern-Twielenfleth.
„Auf der Habenseite steht, dass es Minister Pistorius geschafft hat, dass wir wieder darüber reden, wer wir sind, wofür wir stehen und ob wir notfalls bereit sind, dafür zu kämpfen“, sagt Jürgen-Joachim von Sandrart. Damit endet aber aus seiner Sicht auch der positive Teil. „Freiwilligkeit, die in einem Losverfahren gipfelt, ist eine Ohrfeige für die Gesellschaft, die mehrheitlich bereit wäre, die Wehrpflicht wieder aufzunehmen“, sagt er.
Verantwortliche wissen, dass das nicht funktioniert
Der jetzt gefundene Kompromiss sei einer Minderheit in einer Minderheit geschuldet. Er sieht die SPD-Linken dafür in der Verantwortung. „Ich hoffe, dass selbst in der SPD dieser Ansatz der Freiwilligkeit, der dem Prinzip folgt „Ja, aber ohne mich“ eine Minderheit darstellt“, sagt der Generalleutnant im Ruhestand.
Sein abschließendes Urteil: „Ich glaube, dass diejenigen, die das jetzt auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beschlossen haben, wissen, dass das nicht funktionieren wird“, so Jürgen-Joachim von Sandrart. Er befürchtet, dass die Diskussion in einem halben Jahr wieder geführt wird und wir damit weiter Zeit verlieren, um als Gesellschaft verteidigungsfähig und resilient zu werden. Jürgen-Joachim von Sandrart Ich glaube, dass diejenigen, die das jetzt auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beschlossen haben, wissen, dass das nicht funktionieren wird.
Robert Müller (48) aus Stade war Fallschirmjäger und Hundeführer bei der Bundeswehr. Er hatte Einsätze im Kosovo und in Afghanistan. Im Jahr 2002 explodierte in Kabul eine Rakete neben ihm. Fünf seiner Kameraden starben. Zu Hause zeigte er Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Er kämpfte zwölf Jahre lang, bis die Bundeswehr seine Krankheit anerkannte. Am 1. Dezember feiert ein von der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) produzierter Film über Robert Müller in Frankfurt seine Premiere.
Verpflichtendes soziales Jahr für Migranten öffnen
Müller hat eine klare Position. „Davon halte ich nichts“, sagt er. Müller arbeitet beruflich mit jungen Menschen zusammen. „Die sagen mir, wer bei diesem Losverfahren gezogen wird, zieht die Niete, ist der Loser“, so Müller. Er ist für ein verpflichtendes soziales Jahr für alle jungen Menschen.

Robert Müller lief im Rahmen des ersten deutschen Veteranentags von Hamburg nach Berlin. Foto: privat
Eine Möglichkeit, dieses Jahr abzuleisten könne dann auch der Dienst bei der Bundeswehr sein - unabhängig von der Frage Frau oder Mann. „Ich würde diesen Dienst auch für junge Migranten öffnen, die die deutsche Staatsbürgerschaft anstreben“, sagt der Veteran. Das sei für diese eine Chance, sich zu beweisen und würde die Integration fördern.
Bundestagsabgeordnete: Endlich ins Handeln kommen
Die Bundestagsabgeordnete Vanessa Zobel (CDU, 37) aus Bremervörde hat neben ihrem Parlamentssitz eine sehr persönliche Verbindung zur Bundeswehr: Ihr Mann ist Berufssoldat. Sie thematisiert dies in ihren Beiträgen zur Bundeswehr und setzt sich vehement für eine bessere Bewaffnung der Truppe ein. „Wichtig ist, dass es endlich voran geht“, sagt die direkt gewählte Abgeordnete für den Wahlkreis Stade I - Rotenburg II.

Vanessa Zobel ist Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Stade I - Rotenburg II und hat schon einige Arbeitstage im Berliner Paul-Löbe-Haus verbracht. Foto: Bundestagsbüro
„Wir müssen endlich ins Handeln kommen, um wieder verteidigungsfähig zu werden“, so Zobel. Mit dem Vorschlag, wie er bisher auf dem Tisch liegt, kann sie leben. Sie hätte sich aber einen Automatismus hin zur Bedarfswehrpflicht gewünscht, sollte die Zahl der Freiwilligen nicht ausreichen. Aktuell sehen die Regierungspläne dafür eine Abstimmung des Bundestags vor.
Wehrdienst gemeinsam mit Ersatzdienst denken
Der Stader Bürgermeisterkandidat Arne Kramer (CDU, 38) war als Zeitsoldat und Feldjäger unter anderem in Afghanistan im Einsatz. Auch sein Votum zum Losverfahren ist negativ. Er spricht sich ebenfalls für ein soziales Jahr für alle aus. Damit sollen auch Frauen die Möglichkeit bekommen, zur Bundeswehr zu gehen.
„Wir dürfen das Thema aber nicht ohne den Ersatzdienst denken“, sagt Kramer. Dieser würde auch dem Sozialsystem zugutekommen. Eine Wehrpflicht würde das Ansehen der Soldaten in der Gesellschaft verbessern.

Arne Kramer war als Feldjäger im Afghanistan-Einsatz. Foto: Privat
„Ich bin in meiner aktiven Zeit angespuckt worden“, sagt Kramer. Für ihn sei die Zeit bei der Bundeswehr eine prägende Zeit gewesen. „Man lernt, strukturiert zu arbeiten, Disziplin und schwierige Situationen und Widerstände auszuhalten“, so Kramer. Auch schnelle Entscheidungen zu treffen und eine entsprechende Fehlerkultur im Anschluss gehörten dazu. „Gerade das ist in der Gesellschaft verloren gegangen.“
Das sagen die TAGEBLATT-Leser
Und wie stehen die TAGEBLATT-Leser zur neuen Wehrpflicht? Die Redaktion hat auf Facebook, Instagram und via Whatsapp nachgefragt. Die Antworten und Kommentare zeigen, dass den Nutzern vor allem eine Sache sauer aufstößt: dass laut neuem Gesetzesentwurf nur Männer zur Musterung verpflichtet werden sollen.
„Warum nur Männer und nicht die Frauen – Gleichberechtigung!!!“, schreibt Stefan Rindt in seinem Kommentar auf Facebook. Mehrere Kommentatoren pflichten ihm bei – unter ihnen nicht nur Männer. „Da ja absoluter Wert auf Gleichberechtigung gelegt wird – bitte auch alle Frauen zur Musterung!“, kommentiert Jana Heinrich.
Musterung auch für Frauen und Diverse
Das sieht auch Anja Blech so: „Es kann nicht sein, dass immer nur die jungen Männer herhalten müssen“, kommentiert sie auf Facebook – und fordert, das Grundgesetz zu ändern. Im Grundgesetz verankert ist bislang nämlich nur die Wehrpflicht für Männer. Swen geht noch einen Schritt weiter und fordert „Musterung für Männer, Frauen, Diverse und Transpersonen ab 18 Jahre“.

In einer Whatsapp-Umfrage sprechen sich die meisten Teilnehmer dafür aus, dass auch Frauen verpflichtend zum Wehrdienst herangezogen werden. Foto: TAGEBLATT Screenshot
Auch bei der Whatsapp-Umfrage ist der Ruf nach Gleichberechtigung laut. Von den 192 Teilnehmern, die bis Redaktionsschluss abgestimmt haben, wählten 118 (61 Prozent) die Antwortmöglichkeit „Warum nur Männer? Auch Frauen sollten herangezogen werden“. 52 (27 Prozent) finden die Pläne der Koalition gut und sind der Meinung, Deutschland solle sich für den Ernstfall rüsten. 20 Teilnehmer (11 Prozent) wollen keine Pflicht, sondern einen freiwilligen Wehrdienst. Den wenigsten ist es egal (2 Stimmen).
Copyright © 2025 TAGEBLATT | Weiterverwendung und -verbreitung nur mit Genehmigung.
