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Ärztemangel

TGegen den Trend: Arzt übernimmt Praxis in Hemmoor und erlebt einen Riesenansturm

Frank Händschke leitete lange eine Abteilung im Elbe Klinikum, bis er den Schritt in die Selbstständigkeit wagte.

Frank Händschke leitete lange eine Abteilung im Elbe Klinikum, bis er den Schritt in die Selbstständigkeit wagte. Foto: Scholz

Lange Wartezeiten, überbordende Bürokratie, endlose Arbeitstage: Der Orthopäde und Unfallchirurg Dr. Frank Händschke hätte viele Gründe gehabt, weiter im Stader Elbe Klinikum zu arbeiten. Doch er übernahm eine Praxis in Hemmoor.

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Von Tim Scholz
Dienstag, 19.03.2024, 11:50 Uhr

Stade/Hemmoor. Frank Händschke lässt sich in einen Stuhl fallen. „Ich bin ziemlich kaputt“, sagt er und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Draußen dämmert es. Sechs Menschen hat Händschke heute an der Schulter operiert. Arthroskopien, Sehnenabrisse, Prothesen. Von 8 bis 16.30 Uhr stand er im OP des Stader Elbe Klinikums, wie jeden Donnerstag.

Bis 2022 leitete Händschke hier die Abteilung für Schulterchirurgie. Seit anderthalb Jahren hat er eine eigene Praxis für Orthopädie und Unfallchirurgie in Hemmoor. Dank einer Kooperation mit dem Elbe Klinikum operiert er dort donnerstags seine Patienten.

Lange Wartezeiten und Aufnahmestopp

Nach dem OP-Tag führt Händschke in ein Besprechungszimmer, telefoniert kurz mit einem Kollegen aus Stade. Und widmet sich dann der Frage, was ihn bewogen hat, eine Praxis auf dem Land zu übernehmen. Und das in einer Zeit, in der Ärzte lieber angestellt als selbstständig sind und er selbst immer wieder „Horrorgeschichten“ hört.

Horrorgeschichten: Da sind Patienten, die über zu lange Wartezeiten klagen. Da sind Kollegen, die keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Da sind die überbordende Bürokratie und die langen Arbeitstage. Da sind das nach Händschkes Worten „unterfinanzierte System“ und die „grausame betriebswirtschaftliche Realität“, auf die man im Studium so gut wie nicht vorbereitet werde.

Händschke hätte also viele Gründe gehabt, die Praxis nicht zu übernehmen. Doch er sagt: „Ich habe es nicht bereut.“

Schon sein Vater war Unfallchirurg

Frank Händschke, 47, verheiratet, drei Kinder, stammt aus Ostdeutschland. Schon sein Vater war Unfallchirurg. „Eine familiäre Prägung kann man nicht leugnen“, sagt er. Händschke hat in Kiel studiert, sich auf Orthopädie und Unfallchirurgie spezialisiert, weil ihm „das Handwerkliche“ in diesem Bereich gefällt.

Händschke war in verschiedenen Krankenhäusern tätig. 2012 wurde er Oberarzt am Stader Elbe Klinikum, ab 2015 leitete er die Abteilung für Schulterchirurgie. „Das ist ein sehr anstrengender Job“, sagt Händschke und erzählt von Bereitschaftsdiensten, Wochenend- und Nachtschichten.

Ärztemangel vor allem auf dem Land

Die Idee einer eigenen Praxis hatte er schon länger, auch um mehr Zeit für seine Kinder zu haben. Als Händschke erfuhr, dass in Hemmoor ein Nachfolger für die Praxis gesucht wurde, wagte er den Schritt. „Dabei wollte ich ursprünglich gar nicht nach Hemmoor“, sagt Händschke. Am liebsten hätte er sich in Stade niedergelassen.

Ungewöhnlich ist Händschkes Weg auch deshalb, weil er aufs Land ging. Dort macht sich der Ärztemangel besonders bemerkbar. „Ich bin der einzige Orthopäde auf weiter Flur. Die nächsten sind mindestens 40 bis 50 Minuten Fahrzeit entfernt“, sagt er.

Ansturm allein nicht zu bewältigen

Eigentlich dürfte es dort aber keinen Mangel geben. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung gibt es in den Kreisen Stade und Cuxhaven bei den Chirurgen und Orthopäden sogar eine Überversorgung. Und danach richtet sich auch die Bedarfsplanung, wo sich Ärzte niederlassen dürfen.

„In der Realität ist das aber nicht so“, hat Händschke in seinem ersten Jahr festgestellt. Der Ansturm auf seine Praxis war immens und für ihn allein nicht zu bewältigen. Trotz der rechnerischen Überversorgung bewilligte ihm die Kassenärztliche Vereinigung eine weitere Stelle. So konnte Händschke mit Dr. Katharin Boddin eine Spezialistin für Kinderorthopädie einstellen.

Rund 100 Patienten pro Tag

Dadurch erhofft sich Händschke, die Wartezeiten zu verkürzen. Derzeit müsse man bis Mai oder Juni auf einen Termin für die Sprechstunde warten. Ein Aufnahmestopp kommt für ihn nicht infrage. „Wir wollen die Patienten so heilen, dass sie uns danach lange nicht mehr brauchen“, sagt er. „Natürlich ist das ein hehres Ziel.“

In der Praxis werden rund 3000 Patienten pro Quartal und rund 100 pro Tag behandelt. Dabei gibt es unkomplizierte Fälle, etwa wenn jemand neue Einlagen braucht oder eine Injektion bekommt, aber auch zeitaufwendige, wenn sich neue Patienten mit Rückenschmerzen vorstellen. Im Schnitt rechnet man mit 15 Minuten pro Behandlung.

Anfeindungen und schlechte Bewertungen

Das erfordert eine gute Organisation, vor allem wenn kurzfristige Termine dazwischenkommen. „Einen 16-Jährigen mit ausgekugelter Schulter zum Beispiel ziehen wir vor“, sagt Händschke. Damit stößt das elfköpfige Praxisteam aber auch manchmal an seine Grenzen. So hätten frustrierte Patienten schon mal schlechte Google-Bewertungen hinterlassen oder das Team angefeindet. Die seien dann der Praxis verwiesen worden, sagt Händschke.

Sein Arbeitstag beginnt meist um 7.30 Uhr, endet aber nicht mit der letzten Sprechstunde um 16.30 Uhr. Denn Händschke ist nicht mehr nur Arzt, sondern führt als Praxisinhaber auch ein „kleines Unternehmen“, wie er sagt. Etwa zwei Stunden am Tag verbringt er mit Verwaltungsaufgaben: Gehälter auszahlen, Anfragen von Versicherungen beantworten, Investitionen planen. So kommt er auf 50 bis 60 Arbeitsstunden pro Woche.

Arzt will nicht nur wirtschaftlich denken

Doch gerade das Betriebswirtschaftliche sorge manchmal für ein „schlechtes Gefühl“, sagt Händschke. Denn behandelt er zu viele Patienten im Quartal, werden die Leistungen ab einer bestimmten Grenze deutlich geringer vergütet. Dennoch werde kein Patient aus wirtschaftlichen Gründen abgewiesen, sagt Händschke, wenngleich er darin einen der Hauptgründe sieht, „warum sich in Zeiten steigender Nebenkosten immer weniger Mediziner für die Selbstständigkeit als Kassenarzt begeistern lassen“.

Für Frank Händschke überwiegt derzeit das Positive, etwa die vielen dankbaren Patienten. „Wir haben schon so viel Schokolade und Blumen über den Tresen bekommen“, sagt er. Und er selbst arbeitet zwar nicht weniger als damals im Krankenhaus, aber er kann sich seine Zeit jetzt besser einteilen und seine Kinder aufwachsen sehen.

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