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Zweiter Weltkrieg

T„Hungrig, dreckig und verwanzt“: Stader erzählt seine Fluchtgeschichte

Kurd von Ziegner ist als Kind aus Westpreußen nach Niedersachsen geflohen und hat seine Erinnerungen zu Papier gebracht. Seit 1978 lebt er in Stade.

Kurd von Ziegner ist als Kind aus Westpreußen nach Niedersachsen geflohen und hat seine Erinnerungen zu Papier gebracht. Seit 1978 lebt er in Stade. Foto: Stehr

Kurd von Ziegner floh als Junge mit seiner Familie aus Westpreußen vor den Russen. Rückblick auf eine jahrelange Odyssee mit vielen Entbehrungen.

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Von Lena Stehr
Samstag, 04.01.2025, 13:00 Uhr

Stade. Als Kurd von Ziegner (87) zum ersten Mal mit dem Krieg in Berührung kam, war er sechs Jahre alt. Aus Erzählungen erfuhr er von der Bombardierung deutscher Städte. Zwei Jahre später beobachtete er auf der Flucht vor den Russen selbst einen Bombenangriff, sah brennende Häuser und Holzbalken, die rot glühend zur Erde fielen.

„Ein grauenhaftes Bild“, sagt der Stader Kapitän und Wirtschaftsingenieur. Diese und andere Erinnerungen aus seiner Kindheit hat er niedergeschrieben und dem TAGEBLATT zur Verfügung gestellt. Seine Flucht jährt sich in diesem Januar zum 80. Mal.

Kurd von Ziegner war acht Jahre alt, als Deutschland am 8. Mai 1945 kapitulierte.

Kurd von Ziegner war acht Jahre alt, als Deutschland am 8. Mai 1945 kapitulierte. Foto: privat

Geboren wurde Kurd von Ziegner am 23. Januar 1937 im Forsthaus Hartigswalde, Kreis Neidenburg, Ostpreußen. Sein Vater leitete das dortige Forstamt, seine Mutter war die Tochter des Regierungspräsidenten Friedrich von Bülow.

Mit seinen Eltern und seinen vier Schwestern zog von Ziegner im Jahr 1941 nach Jamy in Westpreußen, südlich der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze, östlich der Weichsel. Sein Vater hatte sich, so die Schilderung von Kurd von Ziegner, mit dessen Vorgesetzten, dem Gauleiter Erich Koch, überworfen und musste deshalb wechseln.

Kurd von Ziegners Eltern (links) mit der Schwester des Vaters und deren Mann vor dem Krieg.

Kurd von Ziegners Eltern (links) mit der Schwester des Vaters und deren Mann vor dem Krieg. Foto: privat

„Das war wohl unser Glück, denn wir hörten später, dass beim Einmarsch der russischen Front in Hartigswalde der ehemalige Bürovorsteher meines Vaters mit einer Mistgabel ermordet wurde. Und einige junge Frauen wurden vergewaltigt und anschließend bestialisch ermordet“, berichtet Kurd von Ziegner.

In einer kalten Januarnacht begann die Flucht gen Westen

Die Rote Armee rückte weiter vor. In der Nacht vom 21. auf den 22. Januar 1945 machten sich die von Ziegners deshalb bereit zur Flucht Richtung Westen. Das Auto wurde aufgrund der Benzinknappheit mit Holzkohlengas angetrieben.

„Ich höre noch heute die Reifen im Schnee knirschen“, schreibt von Ziegner in seinen Erinnerungen. Gemeinsam mit einer Angestellten wurden die Mutter und die fünf Kinder ins gut 20 Kilometer entfernte Graudenz zum Bahnhof gefahren. In der Ferne waren Kanonengeschosse zu hören.

Während die Frauen und Kinder bei Minus 22 Grad gemeinsam mit etlichen anderen Flüchtlingen auf einen Zug warteten, gelangten zwei pferdegezogene Treckwagen der Familie über die zugefrorene Weichsel, wo sich ihre Spur dann aber verlor - vermutlich wurden sie geplündert.

Der Vater schloss sich der deutschen Wehrmacht auf dem Weg in Richtung Westen an. Sein Wagen war kaputtgegangen, sämtliches privates Eigentum inklusive der Führerscheine und Dokumente blieb zurück. Die Familie sah sich erst in Deutschland wieder.

Tote Menschen wurden einfach aus dem Zug geworfen

In einem geschlossenen Viehwaggon fuhr Kurd von Ziegner dicht gedrängt mit vielen anderen über die bereits teilweise zerbombte Weichselbrücke. Er erinnert sich, dass während der Fahrt verstorbene Menschen einfach aus dem Zug geworfen wurden.

Es gab immer wieder Fliegerangriffe auf den fahrenden Zug. „Wenn der Lokomotivführer die Möglichkeit hatte, wurde die Fahrt gestoppt. Wir mussten den Waggon verlassen und Deckung im Schnee suchen. Es war bitterkalt“, schreibt von Ziegner.

Tomatensuppe vom Roten Kreuz

An seinem 8. Geburtstag waren bereits alle eingepackten Brote aufgegessen. Einen Tag später, am 24. Januar 1945, gab es an einem Bahnhof endlich eine dünne Tomatensuppe vom Roten Kreuz, die alle heißhungrig verschlangen. Weiter ging die Fahrt in einem Personenwagen.

„Endlich konnten wir mal wieder sitzen und schlafen“, schreibt von Ziegner. Abends beobachtete der kleine Kurd in der Ferne, wahrscheinlich in Stettin, einen Bombenangriff. Tags darauf erreichte die Familie abends das Anwesen einer Tante in Demmin in Mecklenburg-Vorpommern, das bereits voller Flüchtlinge war. Später kam hier auch der Vater an. „Zu diesem Zeitpunkt waren wir hungrig, verdreckt und verwanzt“, schreibt von Ziegner.

Im April 1945 erhielt der Vater eine Vertretung im Forstamt Malchin, einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern. In einer Jagdhütte wartete die Familie auf das Kriegsende. Die Eltern wurden in dieser Zeit während einer Kutschfahrt von einem russischen Flugzeug beschossen.

„Eine Kugel pfiff nur wenige Zentimeter am Kopf meines Vaters vorbei“, schreibt von Ziegner. Es war der letzte Kriegstag, die bedingungslose Kapitulation war bereits von deutscher Seite eingeleitet worden.

Erst 1948 läuft das Leben wieder in geregelteren Bahnen

Ende April 1948 siedelte die Familie nach Niedersachsen um, von Salzwedel aus ging es über die Zonengrenze nach Westdeutschland. Bis zu diesem Zeitpunkt ging Kurd von Ziegner nur unregelmäßig oder gar nicht zur Schule. Die Zeit war zudem geprägt von Hunger.

„Die Ernährung war, obwohl wir auf dem tiefsten Land lebten, sehr schlecht, ich bin eigentlich niemals richtig satt geworden“, schreibt von Ziegner. Erst ab September 1948 lief das Leben wieder in geregelteren Bahnen. „Sehr schnell nach Einführung der D-Mark wurden Lebensmittelmarken abgeschafft und die Hungerperiode war endlich beendet“, so von Ziegner.

Reisen zur Ostküste Südamerikas

Im April 1953 schmiss Kurd von Ziegner seine Lehre zum Landwirt und wurde Matrose. Er heuerte auf einem Schiff der Handelsmarine an und reiste auf Schiffen der Reederei Hamburg-Süd zur Ostküste Südamerikas.

1964 erhielt er das Patent „Steuermann und Kapitän Auf Großer Fahrt“ und heiratete seine Leonore. Das Paar bekam eine Tochter und zog 1978 nach Stade. Seit 1974 ist von Ziegner Wirtschaftsingenieur und machte sich später als Fachmann für Tankschiffe selbstständig. Von der IHK Stade wurde er als Fachmann für Fragen in der Tankschifffahrt vereidigt.

Seit dem Tod seiner Frau im Jahr 2010 lebt Kurd von Ziegner allein in Stade. „Ich bin inzwischen auf den Rollstuhl angewiesen, aber das Leben macht unendlich viel Spaß und ist abwechslungsreich“, sagt der Senior kurz vor seinem 88. Geburtstag beim Termin mit dem TAGEBLATT.

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