TIrmelin Sloman: „Das Chilehaus ist für mich wie Magie“

Irmelin Sloman vor dem Chilehaus. Foto: Lorenz
Wir treffen Irmelin Sloman zum Interview am Chilehaus – wo sonst? Ihr Urgroßvater, der „Salpeter-König“ Henry B. Sloman, ließ das inzwischen ikonische Kontorhaus, in das sie sich als Kind schockverliebte, vor exakt 100 Jahren bauen.
Hamburg. TAGEBLATT: Frau Sloman, das Chilehaus feiert 100. Geburtstag, Bauherr war Ihr Urgroßvater Henry B. Sloman, Hamburgs „Salpeter-König“. Wie gefällt Ihnen das Gebäude?
Irmelin Sloman: Das ist ein phänomenales, absolut schönes Bauwerk. Ich bin Musikerin und ich weiß: Wenn etwas irgendwas bewirken kann in dieser Welt, dann ist es Schönheit, die die Menschen anrührt.
Erinnern Sie sich daran, als Sie das Chilehaus zum ersten Mal gesehen haben?
Das nicht, weil es für mich immer da war, seit ich mich zurückerinnern kann. Mein Urgroßvater hat es gebaut, mein Vater hatte hier sein Büro. Immer, wenn wir mit dem Auto vorbeigefahren sind, hieß es: Wer sieht zuerst das Chilehaus? Ich habe dieses Gebäude schon als Kleinkind geliebt.
Warum?
Vieles daran war für mich wie Magie. Zum Beispiel, dass man die Fenster zunächst nicht sieht, wenn man die Südfront von der Spitze aus betrachtet. Sie tauchen erst auf, wenn man weitergeht Richtung Meßberg. Zu jeder der vielen Figuren an der Fassade habe ich mir Geschichten ausgedacht. Oder der Innenhof der Fischertwiete: Ich dachte früher, das wäre ein verzaubertes Haus, wo die Außenwände innen sind und der Himmel das Dach ist.
Tochter entdeckt historische Schätze in der Garage ihres Vaters
Zum 100. Entstehungsjahr haben Sie den Bildband „Die Chilehaus-Saga“ veröffentlicht. Gilt Ihr Interesse eher der Familiengeschichte oder dem Gebäude?
Das Buch fängt bewusst damit an, wie ich das Chilehaus als Kind wahrgenommen habe, dann aber irgendwann Fragen auftauchten. Als junge Erwachsene hatte ich vom Massaker von Iquique gehört, bei dem chilenische Soldaten 1907 friedlich demonstrierende Arbeiter aus den Salpeterminen erschossen haben. Einige Quellen sprechen von über 3000 Toten. In unserem Familienzweig war dadurch eine Art Schuldgefühl entstanden, weil wir nicht wussten, ob unser Urgroßvater dabei eine Rolle gespielt hat. Inzwischen weiß ich von dem chilenischen Historiker Sergio González, dass keine Arbeiter aus den Minen meines Urgroßvaters an dieser Demonstration beteiligt waren.
Warum begannen Sie, die Geschichte, die dem Chilehausbau vorausging, zu erforschen?
Mein Bruder starb vor dreieinhalb Jahren. Er hatte mehr als 50 Pappkartons aus dem Nachlass meines Vaters in einer Garage in Reinbek gelagert. Darin entdeckte ich viele historische Fotos und Glasnegative aus den Salpeterminen, entstanden um das Jahr 1900. Dann erlaubte auch meine Schwester mir, ihre geerbten Kartons zu sichten. Darin fanden sich einzigartige historische Aufnahmen. Das hat mich absolut fasziniert. Es war, als wäre ich durch eine Falltür in eine andere Zeit gestürzt.
Welche Größenordnung hat der Fund?
Ungefähr 850 Fotoabzüge, 300 Glasnegative sowie eine ungezählte Menge an normalen Negativen. Diese Aufnahmen zeigen nicht nur die Salpeterwerke und die Maschinenanlagen, sondern vor allem die Arbeiter, und zwar nicht nur bei der Arbeit, sondern auch in ihrer Freizeit. Die Historiker in Chile sind vom Glauben abgefallen. Es gibt in dem Land kein vergleichbares Bildmaterial aus dieser Zeit.
Wer hat die Fotos gemacht und in welcher Absicht?
Mein Urgroßvater Henry B. Sloman hat sie in Auftrag gegeben und auch selbst fotografiert. Er hat haufenweise Fotos machen lassen. Der Grund ist leicht zu erklären: Er stammte aus verarmten Familienverhältnissen, litt als Kind Hunger. Er wollte festhalten, was er als Unternehmer geschaffen hat, weil er darauf unendlich stolz war. Und er wollte zeigen, dass es ihm gelungen war, auch den Arbeitern und ihren Familien ein menschenwürdiges Leben zu bieten.
Inwiefern?
Er ließ in seinen fünf Salpeterwerken Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, Theater und Steinhäuser bauen, in denen das extreme Klima mit Hitze und Kälte viel besser zu ertragen war als in den sonst üblichen Wellblechhütten.
Ahnenforschung in Chile
Sie haben mehr als drei Jahre intensiv an der Geschichte Ihrer Familie gearbeitet, haben ein Buch dazu erstellt, sich an Ausstellungen und Vorträgen beteiligt. Was motiviert Sie?
Die Faszination für dieses Bildmaterial. Ohne es zu wissen, habe ich intuitiv die Bedeutung gespürt. Das ist etwas anderes als Ahnenforschung. 2022 reiste ich mit diesen Bildern nach Chile - auch mit einer Art Schuldgefühl von Ausbeutung und wegen des Massakers von Iquique. Und mit der Frage: War unser Urgroßvater ein böser Ausbeuter?
Zu welcher Antwort sind Sie gekommen?
Ich habe dort von den Experten gelernt, dass Henry B. Sloman vollkommen neue Maßstäbe für die Lebensbedingungen seiner Arbeiter gesetzt hat. Er war der erste Minenbesitzer, der dafür sorgte, dass seine Arbeiter und ihre Familien ein Theater hatten, dass es Musiker in seinen Werken gab. Er hat in dieser unglaublich trockenen Atacama-Wüste Parks für seine Arbeiter eingerichtet am nahe gelegenen Wüstenfluss Río Loa, mit Tischen, Bänken und Grillstellen. Außerdem hat er einen Staudamm gebaut, um Strom zu gewinnen und Trinkwasser zu speichern. Der Staudamm und das Maschinenhaus sind heute Nationalmonumente des Landes. Das alles zu erfahren, hat mich bewegt und auch beruhigt.
Aber die Arbeitsbedingungen waren unmenschlich …
Natürlich! Die Tätigkeit in den Salpeterwerken war eine wahnsinnige Knochenarbeit. Das Absprengen der Steinschichten, das Aufbrechen mit Hammer und Meißel, das Zermahlen in kleinere Stücke, das Einatmen des Salpeterstaubs, das Herauslösen der Salze in kochender Lauge und das Entfernen des Abraums. Und das alles in der trockensten Wüste der Welt bei 40 Grad im Schatten, den es nicht gab, und 0 Grad in den Nächten. Ob diese Arbeitsbedingungen bei meinem Urgroßvater besser waren als in anderen Minen, kann ich nicht sagen. Und: Auch die Arbeiter von Henry B. Sloman wurden bis 1903 nicht mit echtem Geld bezahlt. Sie bekamen Fichas, Kunstmünzen, die nur in den Läden des Salpeterwerks galten. Erst nach und nach kamen Zahlungen in echtem Geld dazu und ersetzten schließlich das Kunstgeld.
Schwieriger Umgang mit kolonialem Erbe
Dennoch sagen Kritiker, der Reichtum der Familie Sloman basierte auf Methoden kolonialer Ausbeutung. Was entgegnen Sie?
Wir reden von der Zeit meines Urgroßvaters beziehungsweise von der Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende. Erstens war Chile damals schon eine Republik, keine Kolonie mehr. Und zweitens ist es sehr schwierig, aus heutiger Sicht die damalige Zeit zu be- oder gar verurteilen.
Warum?
Man muss immer möglichst viele Seiten betrachten: So wären in Europa Hungersnöte ausgebrochen, wenn es keinen Salpeter gegeben hätte. Denn die Bevölkerungszahlen in den Ballungszentren waren durch die Industrialisierung explodiert, Salpeter war der rettende Mineraldünger. Das war von großem Nutzen für die Bevölkerung in Europa. Die Frage nach Ausbeutung der Arbeiter wurde damals nicht gestellt – auch nicht hier in Deutschland, zum Beispiel im Kohlebergbau. Gerade deswegen finde ich die sozialen Veränderungen in den Slomanschen Salpeterwerken so wichtig: Aus einer Studie des chilenischen Staats von 1904, in der die Lebensbedingungen aller Arbeiter in über 100 Salpeterminen untersucht wurden, geht hervor, dass die Werke Henry B. Slomans die einzigen sind, in denen die Lebensbedingungen der Arbeiter als gut zu bezeichnen sind. Was er für seine Arbeiter getan hat, war damals revolutionär.
Sie haben einige der historischen Aufnahmen dem Museum MARKK in Hamburg zur Verfügung gestellt. Sind Sie zufrieden mit der dortigen Ausstellung „Weißes Wüstengold“?
Bedauerlicherweise ist man dort in keiner Weise auf die sozialen Errungenschaften eingegangen, die Henry B. Sloman in seinen Salpeterminen umgesetzt hat. Er war seiner Zeit weit voraus und hat Standards gesetzt, die bis in die 50er Jahre galten. Dass in der Ausstellung „Weißes Wüstengold“ auch der heutige Lithium-Abbau in Chile behandelt wird, finde ich toll. Das ist sehr wichtig. Wir können aus der Geschichte der Ausbeutung von Mensch und Natur lernen…
Ihr Urgroßvater war 1912 der mit Abstand reichste Hamburger. Bedeutet Ihnen das heute noch etwas?
Nein, eigentlich nicht. Aber für mich bedeutet es etwas, zu wissen, dass jemand sehr, sehr viel Geld in die Hand genommen hat, um dieses traumhaft schöne Chilehaus zu bauen.
Verspüren Sie einen gewissen Stolz?
Gute Frage. Ja, vielleicht könnte man es einen gewissen Stolz nennen. Was aber nicht heißt, dass ich die Geschichte dahinter vertuschen will.
Ist die Aufarbeitung der Familiengeschichte eine Lebensaufgabe?
Nein, ich bin kein Mensch für Aufgaben, die ein ganzes Leben anhalten. Die Arbeit der letzten gut drei Jahre war schon extrem und hat mich finanziell eine Hypothek gekostet. Ich mache das, weil ich beknackt bin. (lacht)
Vom Reichtum der Familie ist Ihnen nichts geblieben?
Nichts. Ich wohne in einem eigenen Haus, das war aber nicht sehr teuer. Unsere Kinder bekommen Bafög-Höchstsatz. Das Vermögen der Familie Sloman hat sich über die Generationen verflüchtigt, nur ein Teil davon war bis zum Verkauf 1985 noch im Chilehaus gebunden. Die anderen Besitztümer im Osten Deutschlands waren schon nach dem Krieg weg.
Sie leben im Rheinland. Tragen Sie Hamburg noch im Herzen?
Ja, natürlich. Das kriegt man nicht raus. Andererseits unterscheide ich mich von den meisten Hamburgern, weil meine Mutter in Chile aufgewachsen ist. Ich bin sehr viel spontaner und verrückter als andere Leute hier.
Info: „Die Chilehaus-Saga“, Bildband von Irmelin Sloman, erschienen im Verlag Köhler; 272 Seiten zum Preis von 39,95 Euro. Erhältlich im Buchhandel, signierte Exemplare auch direkt über die Autorin unter www.chilehaus-saga.de.
Zur Person – Sopranistin aus berühmter Familie
Irmelin Sloman ist in Hamburg geboren und im Stadtteil Blankenese aufgewachsen. Sie studierte Musik und Gesang in ihrer Heimatstadt, in Kalifornien und in Köln. Sie arbeitet als freischaffende Künstlerin. Ihr Urgroßvater war Henry Braren (B.) Sloman (1848-1931). Der Erbauer des Chilehauses (1922-1924) hatte es im Salpeterhandel zu großem Vermögen gebracht, ließ den Grundstoff für Dünger und Schwarzpulver in eigenen Minen in Chile abbauen. Die sogenannten Flying P-Liner der Hamburger Reederei Laeisz brachten die wertvollen Salze um Kap Horn herum nach Europa. Irmelin Sloman hat zwei erwachsene Kinder (21 und 23) und lebt mit ihrem Ehemann in Nordrhein-Westfalen.
Persönlich – Verliebt in ein Treppenhaus
Der wichtigste Rat an meine Kinder ist … Schönheit wahrzunehmen.
Manchmal habe ich Heimweh nach Hamburg, weil … das Licht im Sommer hier so besonders ist.
Mein Lieblingsort in Hamburg ist … das Treppenhaus im Spitz des Chilehauses.
An Hamburg schätze ich besonders … das viele Wasser.
An Hamburg ärgert mich besonders … zu viel Verkehr und zu viele Baustellen.