TAls Kinder im Bombenhagel: Zeitzeugen berichten von grausamen Erlebnissen

Manfred Hüllen erklärt den Schülern ein nationalsozialistisches Propagandaplakat. Foto: Richter
Der 8. Mai 1945 rückt auch 80 Jahre später noch ganz nah, wenn Zeitzeugen von ihren eigenen Erlebnissen berichten. Das tun sie ausführlich, ohne Tabus und unter Tränen.
Buxtehude. Frauke Petershagen, ihr Mann Prof. Dr. Hansjörg Petershagen und Manfred Hüllen nehmen auf dem Podium Platz. Als der Krieg zuende ging, waren sie noch Kinder - jünger als die Schüler der neunten Klassen, die jetzt den Theatersaal der Integrierten Gesamtschule in Buxtehude füllen.
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Die stellvertretende Landrätin Birgit Butter spricht zu Beginn über die Bedeutung des 8. Mai. Sie war als 13-jährige Austauschschülerin in Frankreich, als der Großvater ihrer Gastschwester sie auf einen Soldatenfriedhof mitnahm. Er zeigte auf die Gräber und sagte: „Das waren die Deutschen.“ Sie habe das nie vergessen - und bei der Frage, ob es ein Tag der Niederlage oder der Befreiung war, entschieden: Es war Befreiung.
Die Zeitzeugen haben die Schüler vorab gebeten, sich zu überlegen, was sie von ihnen wissen wollen. Dabei sind 20 Fragen herausgekommen. Hier eine kleine Auswahl daraus - und die Antworten dazu.
1. Haben Sie mitbekommen, dass es Konzentrationslager gab und was dort passiert ist?
„Neuengamme war nebenan“, berichtet Frauke Petershagen, die 1936 geboren und im Süden Hamburgs in Kirchwerder aufgewachsen ist. Als Kinder hätten sie die KZ-Häftlinge in ihren gestreiften Anzügen am Deich arbeiten sehen, immer in Begleitung bewaffneter Wächter. „Ein trauriger Anblick, es hat uns bedrückt.“
Manfred Hüllen ist in Düsseldorf aufgewachsen und 1939 geboren. Seine Mutter war schwanger mit ihm und lag am 9. November 1938 krank zu Hause. Das war ihr Glück, denn an diesem Tag wurde die Synagoge in Brand gesetzt und das Geschäft, in dem sie als Verkäuferin arbeitete, komplett verwüstet. Das jüdische Ehepaar Rosenbaum, dem es gehörte, wurde erschlagen.
Hüllens Vater landete selbst im KZ. Er war 1942 als Soldat an der Bahn tätig, als ihm ein anderer Soldat für wenig Geld einen kostbaren Pelzmantel anbot - direkt aus einem Waggon, dessen Plombierung er geöffnet hatte. Der Vater konnte nicht widerstehen und schenkte ihn seiner Frau beim nächsten Heimurlaub. Kurz darauf holte die Gestapo ihn ab.
Nach drei Monaten Haft entschied ein Richter, ihn mit Blick auf seine Vergangenheit als SPD-Mitglied direkt ins KZ Buchenwald zu schicken, wo er zwei Jahre blieb. 1944 kam er heraus - aber nur, um als Minensucher an der Front eingesetzt zu werden, bewacht von SA-Männern mit der Waffe.
2. Wie haben Sie die Bombenangriffe wahrgenommen und haben Sie sich in diesen Momenten gefühlt?
Hüllens Familie wohnte in der Nähe der Rüstungsfabrik Rheinmetall. Die Flieger bombardierten aus 5000 Metern Höhe und konnten nicht genau zielen. Das Haus, in dem sie lebten, wurde zerstört, als sie im Keller darunter saßen. Ein Luftschutztrupp räumte den Schutt weg und befreite ihn, seine Mutter und die vierjährige Schwester, die eine schwere Beinverletzung erlitten hatte, aus den Trümmern.

Die Europaflagge haben die Zeitzeugen als Wegweiser zu Frieden und Demokratie mitgebracht. Auf dem Bild von links: Die stellvertretende Landrätin Birgit Butter, Prof. Dr. Hansjörg Petershagen, Frauke Petershagen, Laura Stolley, Lilli Sofie Dreeger, Mia Pustowka, Manfred Hüllen und Marie Rasehorn. Foto: Richter
Hansjörg Petershagen hat noch heute das Brummen und Pfeifen der Bomben und die kurze Stille vor der Detonation im Ohr: „Ich habe ein Trauma und kann nicht ab, wenn Silvester Zündschnüre angezündet werden und man auf den Knall wartet.“ Frauke Petershagen überlebte im Sommer 1943 die Operation Gomorrha, ein mehrtägiges Flächenbombardement auf Hamburg. Ihr Großvater und ihre Patentante kamen dabei ums Leben.
Eine Nachbarin, die überlebte, indem sie in den Kanal sprang, berichtete später, dass sie es aus dem Keller noch hinaus auf die Straße schafften. „Sie kamen von einer Hölle in die andere. Die Straße war ein Glutmeer, und ein unwahrscheinlicher Sturm tobte. Der Feuersturm riss alles mit sich ins Flammenmeer.“ Auch den Mann der Nachbarin, dessen Hand sie gehalten hatte.
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Hüllen weint, während er berichtet: In Düsseldorf ausgebombt, waren sie in Thüringen untergekommen und auf dem Weg zum Bahnhof, als sich Tiefflieger näherten. Ein Soldat, der einen Lkw voller Munition entladen wollte, raste davon, um eine Explosion zu verhindern. Dabei überfuhr er die Frau mit den zwei kleinen Kindern. Manfred und seine Mutter überlebten schwer verletzt. Seine Schwester starb am Unfallort.
3. Wie war die Zeit nach dem Krieg? Was war hart und was ist besser geworden?
„In der englischen Besatzungszone haben sich die Soldaten zivilisiert verhalten“, sagt Frauke Petershagen. Die Amerikaner nahmen den Brautschmuck seiner Mutter mit, berichtet Hüllen. Danach kamen sowjetische Soldaten. Sie vergewaltigten seine Mutter, während sie dem kleinen Manfred im Nebenzimmer den Mund zuhielten.
„Heute ist der Krieg noch gemeiner als früher“, sagt Hüllen und erzählt, wie geflüchtete Frauen und Kinder aus Charkiw oder Kiew die Bomben fallen hören, wenn sie mit ihren Männern und Vätern telefonieren. „Auf Euch kommt die Verantwortung zu, dass wir Frieden und Demokratie erhalten“, sagt Manfred Hüllen. Er warnt auch vor einem Erstarken der Rechtsradikalen. Seine Frage, was am besten gegen Hass und Hetze wirkt, beantwortet ein Schüler zur Freude der drei Zeitzeugen genau richtig: „Liebe.“
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