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Bildung

TLegasthenie und Abitur: Warum dem Landesvorsitzenden der Kragen platzt

Friedhelm Espeter ist Vorsitzender des Landesverbands Legasthenie und Dyskalkulie.

Friedhelm Espeter ist Vorsitzender des Landesverbands Legasthenie und Dyskalkulie. Foto: Fehlbus

Nicht fehlerfrei lesen und schreiben können und trotzdem Abitur mit Bestnote machen, geht das? Ja, sagt Friedhelm Espeter und rechnet mit der Bildungslandschaft ab.

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Von Miriam Fehlbus
Sonntag, 17.11.2024, 15:00 Uhr

Harsefeld. Friedhelm Espeter ist Vorsitzender des Landesverbands Legasthenie und Dyskalkulie. Auf Einladung des örtlichen Elternkreises ist er in Harsefeld zu Gast und hat ein interessiertes Publikum vor sich. Fast die Hälfte der 60 Gäste arbeitet als Lehrer. Die andere Hälfte besteht aus Eltern, manchmal überschneidet es sich.

Gymnasiallehrer berichten im geschützten Raum dieser Gruppe, wie weh manche Aussagen von Kollegen tun. So wie diese: Schüler, die nicht richtig lesen und schreiben könnten, haben in der Oberstufe nichts zu suchen. „Da platzt mir der Kragen, mit welcher Bildungsarroganz wir in Deutschland unterwegs sind“, sagt Friedhelm Espeter.

Lesen und Schreiben: Nicht mehr so wichtig wie vor 100 Jahren

Die Wichtigkeit, lesen und schreiben zu können, nehme ab. „Das war vor 100 Jahren wichtig, heute gibt es alternative Lernmöglichkeiten“, sagt Espeter. Vorlesesoftware eröffne den Zugang zu Texten und Informationen. Wer einen fehlerfreien Text abliefern möchte, kann auf Rechtschreibprogramme und Künstliche Intelligenz setzen, solange er selbst für die Inhalte verantwortlich ist. Und nicht wenige Studiengänge und Berufe kommen ohne Rechnen aus.

Da platzt mir der Kragen, mit welcher Bildungsarroganz wir in Deutschland unterwegs sind.

Friedhelm Espeter, Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie

Der Landesverband kümmert sich um die Rechte von Menschen mit Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung) oder Dyskalkulie (Rechenstörung). Bei diesem Vortrag steht die Legasthenie im Vordergrund.

Gerade Schüler mit einer Lernstörung, die verhindert, dass die allgemein erwartete Schreib-, Lese- und Rechenkompetenz auf dem Weg zum Abitur erreicht wird, würden ihre Schwächen mit ihren Stärken kompensieren, sagt Espeter. Aber auch wenn sie sich in der Regel deutlich mehr Zeit nehmen, um zu lernen, bleibt das bei den Noten unbelohnt. „In der Oberstufe werden in Niedersachsen für alle Fächer Punkte bei vielen Rechtschreibfehlern abgezogen“, sagt Espeter, Vater eines erwachsenen Kindes mit Legasthenie aus der Region Hannover, das summiere sich auf 20 Prozent der Note.

Inklusionspflicht: Regeln müssen für alle Schüler gleich sein

Dabei sollte es eigentlich problemlos möglich sein, einen entsprechenden Nachteilsausgleich zu gewähren. Das Bundesverfassungsgericht stellte 2023 fest, dass es sich bei Legasthenie um eine Behinderung gemäß Artikel 3, Absatz 3, Satz 2 Grundgesetz handelt. Geklagt hatte ein Betroffener aus Bayern. Bei einer Legasthenie beruhten die Defizite beim Lesen und Schreiben auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung, so der Senat. Es ergebe sich eine Pflicht zur Inklusion, die auch bei Schulabschlussprüfungen zu beachten sei.

„Regeln müssen für alle Schüler gleich sein, sie gelten für Menschen mit Behinderung körperlicher oder geistiger Art oder medizinisch attestierter Legasthenie“, fasst es Espeter zusammen. Der Kläger in Bayern hatte sich dagegen gewehrt, dass allein bei Schülern mit einer Legasthenie eine Zeugnisbemerkung zur veränderten Leistungsmessung erfolgte. Das sah der Senat als Diskriminierung gegenüber Schülern mit anderen Behinderungen.

Ein fast 20 Jahre alter Erlass ohne das Wort Legasthenie

In Bayern gibt es Regelungen. Aber die Lehrer in Niedersachsen würden mit den Entscheidungen allein gelassen, sagt Espeter. Hier gebe es nur den „Erlass zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen“.

Vor zwölf Jahren ist der seit 2005 gültige Erlass abgelaufen, bis zur Veröffentlichung eines neuen Erlasses ist der alte anzuwenden. „Legasthenie, den Begriff finden Sie hier nicht, damit wird doch die Geisteshaltung des Kultusministeriums deutlich“, sagt Espeter verärgert. Die Ausführungen gehen von den Schuljahrgängen 1 bis 10. Die Sekundarstufe II, also die gymnasiale Oberstufe und das Abitur, komme nicht vor.

Attest und Offensichtliches: Die Möglichkeiten der Schulen

Auch deshalb stellte der Landesverband seinen diesjährigen Aktionstag unter das Motto „Legasthenie und Dyskalkulie in der Oberstufe!“. Unter anderem ließ er allen Fachkonferenzleitern Deutsch und Mathematik der Gymnasien in Niedersachsen ein Info-Paket zukommen. Die Hoffnung ist, dass das Interesse daran so groß ist wie in Harsefeld. Denn die Lehrer und Schulleitungen haben oft mehr Möglichkeiten, als ihnen bewusst ist. „Ein Erlass sei eine Arbeitsanweisung, kein Gesetz“, sagt Espeter. „Als Eltern können wir nur an Gesetze appellieren, nicht an einen Erlass.“ Und so sei es für Eltern wichtig, ein Attest vorzulegen. Aber für die Schule könne die Offensichtlichkeit ausreichen, um zu handeln. Und es stehe für ihn außer Frage, dass ein Lehrer die Kompetenz habe, diese festzustellen.

Wer Fragen zu dem Thema hat, kann sich an den Elternkreis in Harsefeld wenden. Regelmäßig finden Treffen statt, Birgit Lukas gibt Auskunft: lukas@legasthenie-verband.de.

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