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Unfallopfer

TMit Ehrgeiz, Mut und Energie: Sie ist Sportlehrerin - und sitzt im Rollstuhl

Seit einem Sportunfall während ihres Studiums ist Sina Wiedemeiers linkes Bein gelähmt. Heute arbeitet sie als Sport- und Mathelehrerin an der Grundschule in Nordholz.

Seit einem Sportunfall während ihres Studiums ist Sina Wiedemeiers linkes Bein gelähmt. Heute arbeitet sie als Sport- und Mathelehrerin an der Grundschule in Nordholz. Foto: Leuschner

Sina Wiedemeier hat keine Angst vor Widerständen. Seit einem Unfall ist ihr linkes Bein gelähmt. Allen Unkenrufen zum Trotz beendet sie ihr Studium als Sportlehrerin. Heute unterrichtet sie in Nordholz und hilft anderen Unfallopfern.

Von Heike Leuschner Montag, 05.02.2024, 22:00 Uhr

Studium, Leistungssport, Partys – Sina Wiedermeier ist 23 Jahre alt und glücklich. „Ich wusste, dass ich einmal in meinem Traumjob als Grundschullehrerin für Sport und Mathematik arbeiten werde.“ Während des Studiums in Oldenburg spielt die gebürtige Cuxhavenerin bei VfL Oldenburg Handball, steht kurz vor ihrem ersten Spiel in der 2. Bundesliga und trainiert obendrein selbst eine Mannschaft. Sie schwärmt von „tollen Freuden, der Familie als Rückhalt, einem wunderbaren Leben“. An einem Sommertag vor sieben Jahren ändert sich alles.

Fachleute diagnostizieren inkomplette Querschnittssymptomatik

Seit einem Sturz vom Schwebebalken zu Beginn ihres Lehramtsstudiums leidet Wiedemeier unter einer Fußhebeschwäche. Sie wird deswegen therapeutisch behandelt. Auch am 17. August 2016. „Der Physiotherapeut wollte in der Sturzregion die Muskeln stärken. Ich dachte, danach ist es besser“, sagt die heute 30-Jährige. „Doch dann hat es geknackt und das linke Bein ist unkontrolliert zur Seite gefallen.“

Sina Wiedemeier wird ins Krankenhaus gebracht und absolviert anschließend eine intensive Reha. Neuneinhalb Monate dauert die Behandlung.

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Was sie zunächst nicht wusste: Wiedemeier hatte beim Sturz vom Schwebebalken eine Einblutung im Rücken erlitten, die die betroffene Tiefenmuskulatur gelähmt hat. „Die Symptome sind seitdem wie bei einer klassischen, inkompletten Querschnittslähmung“, erklärt die heute 30-Jährige.

In der Reha auf dem Hof einer befreundeten Physiotherapeutin lernt Wiedemeier das therapeutische Reiten kennen und unternimmt sogar erste Gehversuche mit einer Beinorthese. Das Gerät stabilisiert ihr gelähmtes Bein von der Fußsohle bis zur Hüfte. „Ohne diese Freundin wäre ich heute nicht da, wo ich bin“, sagt sie, während sie mit dem Rollstuhl durch die Turnhalle der Nordholzer Grundschule fährt.

Seit zwei Jahren arbeitet sie hier als Lehrerin für Sport und Mathematik und leitet eine Klasse. Wiedemeier ist glücklich; gleichzeitig spricht sie von einem schwierigen Weg.

„Ich hatte Windeln um und ein Ding, das den Rumpf stützt.“

„Nach dem Unfall dachte ich, das Leben ist vorbei. Ich saß im Rollstuhl, hatte Windeln um und ein Ding, das den Rumpf stützt. Ich war ein richtiger Pflegefall.“ Schwer zu begreifen für eine 23-Jährige, die schon mit sechs Jahren Handball spielt und als Jugendliche so gut ist, dass sie auf ein Sportinternat hätte wechseln können.

Wiedemeier hadert. Ging sie früher in die Halle oder laufen, um den Kopf freizubekommen, blieben ihr jetzt nur Runden ums Krankenhaus im Rollstuhl, um Dampf abzulassen. „Aber der Körper kommt einem immer hinterher, egal, was man macht“, erzählt sie leise.

Vom sechsten Lebensjahr an hat Sina Wiedemeier Handball gespielt. Ein paar Würfe bekommt sie trotz ihrer Lähmung auch heute noch hin. Eine spezielle Hightech-Beinorthese ermöglicht es ihr, kurze Strecken zu gehen.

Vom sechsten Lebensjahr an hat Sina Wiedemeier Handball gespielt. Ein paar Würfe bekommt sie trotz ihrer Lähmung auch heute noch hin. Eine spezielle Hightech-Beinorthese ermöglicht es ihr, kurze Strecken zu gehen. Foto: Leuschner

Fünf Freunde und ihre Familie helfen ihr mit täglichen Besuchen im Krankenhaus und in der Reha, wieder Mut zu fassen. „Neuneinhalb Monate lang, jeden Tag.“

Während ihres Krankenhausaufenthaltes überlegt Wiedemeier kurz, das Studium zu wechseln, entscheidet sich aber doch, ihren Traumberuf Lehrerin weiterzuverfolgen. Sie lernt jetzt auch, was Barrieren im Studium sind. „Wir hatten ein Inklusionsmodul, und ich als Behinderte konnte die Klausur nicht mitschreiben, weil wir keinen Rollstuhlplatz im Hörsaal hatten.“ Die Dozentin nimmt sie mit in ihr Büro, lässt sie die Klausur nachschreiben.

In ihrer Masterarbeit beschäftigt sich Wiedemeier mit ihrer eigenen Diagnose. Beim Recherchieren wird sie auf die Hightech-Beinorthese C-Brace aufmerksam und trainiert, um die Anforderungen für das computergestützte Hilfsmittel zu erfüllen.

Wiedemeier: 6 Schulen lehnen Bewerbung aus baulichen Gründen ab

Nach dem Referendariat geht sie nach Bremerhaven, gründet eine Wohngemeinschaft mit ihrer Mutter. Sie habe es sich anfangs nicht zugetraut, allein zu leben. „Und einen Pflegedienst wollte ich auf keinen Fall.“

Mit einer Abschlussnote von 1,9 sucht Sina Wiedemeier in den Landkreisen Cuxhaven und Wesermarsch eine Grundschule, an der sie unterrichten darf. Sechs Schulen lehnen ab. „Überall hieß es, wir sind nicht barrierefrei.“ Wiedemeier macht den Schulen keinen Vorwurf. Trotzdem schüttelt sie den Kopf. „Inklusion verbietet, Kinder mit Behinderungen zu diskriminieren. Aber bei Lehrern darf man das?“

Vor zwei Jahren fragt sie in der Nordholzer Grundschule nach einer beruflichen Perspektive. Hier will man sie nicht wieder gehen lassen. Die Schule ist überwiegend barrierefrei. Doch auch hier dauert es anderthalb Jahre, bis sie ohne Hilfe ihrer Assistenz über eine Rampe in die Turnhalle rollen kann.

Sportlehrerin im Rollstuhl? - Warum denn nicht?

Vor einer Karre mit bunten Matten stoppt sie ihren Rollstuhl, öffnet den Fellsack, der ihre Beine umschließt und steht auf. Über ihrem linken Bein trägt sie ein Gerät aus Hartplastik mit Gelenken und Motor. Es ist die Beinorthese, mit der sie sich in ihrer Masterarbeit beschäftigt hat, ein computergesteuertes Hilfsmittel, das ihr hilft, nahezu normal zu laufen.

Wiedemeier macht Liegestütze, trippelt mit einem Basketball zum Korb, wirft ein paar Bälle und setzt sich mit angewinkelten Beinen auf die Matte. Sie kann Schrägen bewältigen, bis zu sechs Kilometer E-Bike fahren und in unebenem Gelände laufen. Bis zu 400 Meter schafft sie zu Fuß, dann machen ihre Muskeln schlapp. Ignoriert sie ihre Grenzen, kommt es zu Spastiken, unwillkürlichen und schmerzhaften Muskelbewegungen, die sie nicht kontrollieren kann. Deshalb braucht sie ihren Rollstuhl – auch im Schulalltag.

Eine Sportlehrerin im Rollstuhl? „Warum denn nicht?“, fragt Wiedemeier zurück. „Das ist doch die Kunst, einen Unterricht so zu strukturieren, dass ich auch im Rollstuhl daran teilnehmen und ihn leiten kann.“

Die 30-Jährige spricht von Unterrichtsprinzipien, die sie anwenden kann, um nicht selbst die Hilfestellung geben müssen. „Kinder lernen nicht besser durch Ideale, sondern wenn sie einander beobachten.“ Wichtig ist es ihr, den Kindern zu vermitteln, wie sie etwas anfassen und sich bewegen müssen. „Man muss halt viel Grundwissen und Expertise mitbringen, aber dann kann man genauso gut aus dem Rollstuhl Sport unterrichten.“

„Kinder gehen ganz unbefangen mit meiner Behinderung um“

Wiedemeier wirkt glücklich mit ihrer Berufswahl. „Kinder gehen einfach ganz unbefangen und ohne Vorurteile mit meiner Behinderung um.“ Unlängst hätten ihre Schüler sie gezeichnet – mit ihrer Orthese am Bein. Manchmal habe sie den Eindruck, dass Kinder ihren Rollstuhl entweder gar nicht oder als selbstverständlich wahrnehmen. Als sie zu ihrem ersten Elternabend eingeladen habe, seien manche Mütter und Väter überrascht gewesen, dass sie im Rollstuhl sitzt. „Die Schüler hatten es einfach nicht erzählt.“

Aufrecht und mit Beinorthese: So wird Sina Wiedemeier von ihren Schülern gesehen.Foto: privat

Aufrecht und mit Beinorthese: So wird Sina Wiedemeier von ihren Schülern gesehen.Foto: privat Foto: privat

Neben ihrer Arbeit als Lehrerin engagiert sich Wiedemeier im Auftrag von Ottobock, dem Entwickler ihrer Beinorthese, für frisch verunglückte Menschen. „Ich möchte, dass sich Menschen nicht so perspektivlos fühlen, wie ich mich nach meinem Unfall gefühlt habe“, sagt sie. „Diese Angst hätte man mir sofort nehmen können, wenn man mir eine Perspektive aufgezeigt hätte.“ Mit vier Patienten sei sie bereits ins Gespräch gekommen. „Es dürfen gern noch mehr werden.“

Vor kurzem ist Sina Wiedemeier mit ihrer Assistenzhündin Nala in eine eigene Wohnung gezogen. Die Fellnase hilft ihr, den Alltag zu bewältigen und begleitet sie auch zur Schule.

Vor kurzem ist Sina Wiedemeier mit ihrer Assistenzhündin Nala in eine eigene Wohnung gezogen. Die Fellnase hilft ihr, den Alltag zu bewältigen und begleitet sie auch zur Schule. Foto: privat

Gerade ist Sina Wiedemeier mit ihrer Assistenzhündin Nala in eine eigene Wohnung gezogen. „Ich übe noch, aber der Drang, immer selbstständiger zu werden, ist groß“, sagt sie. Und wenn sie sich doch einmal richtig mies fühlt, dann schaut sie sich Fotos aus der Zeit an, in der sie allein gar nichts konnte. „Dann bin ich glücklich, dass ich diesen Weg bis hierhin schon gegangen bin.“

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