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Clan-Kriminalität

TNeue Erkenntnisse zur tödlichen Messerattacke von Stade

Die Spurensicherung war bis tief in die Nacht im Einsatz.

Die Spurensicherung war bis tief in die Nacht im Einsatz. Foto: Battmer

Monatelang haben Reporter der ARD zum Thema Clan-Kriminalität recherchiert. Auch Stade spielte eine wichtige Rolle - mit neuen Erkenntnissen zur tödlichen Messerattacke im März.

Von Mario Battmer und Lars Strüning Dienstag, 16.07.2024, 19:30 Uhr

Stade. „Der Shisha-Krieg von Stade“ ist der Bericht überschrieben, der viele Erkenntnisse auch der TAGEBLATT-Reporter bestätigt und zudem neue Hintergründe aufdeckt.

Streit schon vor dem tödlichen Messerstich

Dem Rechercheteam des NDR und des Politikmagazins „Report München“ (Bayerischer Rundfunk) lagen nach eigenen Angaben „vertrauliche Polizeidokumente“ vor. Sie belegen demnach, dass der tödlichen Eskalation in Stade mehrere gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den beiden Clan-Familien, zwischen Opfer und Täter, vorausgegangen waren.

Demnach ging es in dem Konflikt auch um Revierstreitigkeiten. „Es geht insbesondere darum, dass jeder dieser Clans ein gewisses Revier für sich markiert hat. Bei allem, was dort passiert, auch an kriminellen Handlungen, duldet so ein Clan keine Einmischung eines anderen Clans von außen“, erklärt Clan-Experte Thomas Ganz, ein ehemaliger Ermittler des niedersächsischen Landeskriminalamts, den ARD-Reportern.

Womöglich ein Streit um Revieransprüche

Hintergrund: Vor der Tat hatte die Familie El-Zein in Buchholz einen Shisha-Shop eröffnet - ein Revier, das die Familie Miri für sich beansprucht haben soll. Hier soll der spätere mutmaßliche Täter nach TAGEBLATT-Informationen eine Ergotherapiepraxis unterhalten haben, die inzwischen geschlossen zu sein scheint. In Folge der Expansion der Familie Al-Zein nach Buchholz erweiterten die Miris das Sortiment ihres Sport- und Kleidungsgeschäfts in Stade, einem vermuteten El-Zein-Gebiet, um Tabak und Shishas.

Am 22. März eskalierte der Streit. Wie mehrfach berichtet, kam es zu mehreren Vorfällen in der Stader Innenstadt. Zunächst griffen Mitglieder der Familie El-Zein ein Geschäft der Miris in der Hökerstraße mit Schlagwerkzeug und Stangen an. Diese attackierten dann ein Privathaus der El-Zeins im Altländer Viertel.

Blick auf den Unfallort in der Straße Beim Salztor.

Blick auf den Unfallort in der Straße Beim Salztor. Foto: Battmer

Angeblich sollen zu dem Zeitpunkt nur Frauen im Haus gewesen sein - ein Tabubruch im Milieu, in dem die Männer Streitigkeiten unter sich ausmachen. Dies goss weiteres Öl ins Feuer. Die Stimmung heizte sich weiter auf.

Es kam zu „Jagdszenen in Stade“, schildert NDR-Redakteur Thomas Berbner die Verfolgungsjagd, an deren Ende ein Auto auf der Brücke am Salztor gerammt wurde. Die Männer stiegen aus, gerieten in Streit und es kam zu Handgreiflichkeiten. Der Täter stach mit einem Messer dem Opfer brutal in den Kopf - am helllichten Tag, auf offener Straße und obwohl Polizei am Tatort war. Die Beamten waren von einem einfachen Unfall ausgegangen und wurden selbst von dem Tatverlauf überrascht.

Mutmaßlicher Täter in Buchholz festgenommen

Sechs Wochen später nahm die Polizei den mutmaßlichen Täter, einen 34-Jährigen, bei einer Razzia fest - in Buchholz. Es soll sich dem Bericht nach um ein Mitglied der Miri-Familie handeln.

Das Rechercheteam von NDR und BR teilt mit, es habe mit einem Schwager des mutmaßlichen Opfers in Kiel gesprochen. Dieser sagte demnach, die Tat sei eine Tragödie für beide Familien - und das wegen einer Nichtigkeit. Er habe behauptet, der mutmaßliche Täter habe bei der Auseinandersetzung auf der Brücke nur seinen Bruder schützen wollen. Die Männer hätten sich zuvor Messer besorgt, als die Streitigkeiten begannen. Schuld sei aber der Getötete selbst, er habe immer wieder provoziert, so der Schwager zum NDR.

Wie die Recherche auch zeigt, ist das Opfer wohl doch in kriminelle Aktivitäten verwickelt gewesen, anders als es der Sprecher der Salâhud-Dîn Moschee, eines großen islamischen Zentrums in Essen, erklärte. Von 2010 bis 2013 stand er dem Bericht zufolge in einem großen Drogenprozess in Stade vor Gericht. „Im Zuge der Ermittlungen wurde eine Oberstaatsanwältin bedroht und konnte sich daraufhin mehrere Jahre nur mit Personenschutz durch Stade bewegen“, heißt es.

Opfer war wegen Drogenhandels verurteilt

Nach einem Tumult aufgebrachter Angehöriger im Stader Schwurgerichtssaal habe das Verfahren nach Celle in einen Hochsicherheits-Gerichtssaal verlegt werden müssen. Dort sei das jetzige Opfer 2013 wegen Drogenhandels zu einer hohen Haftstrafe verurteilt worden.

Vor diesen Hintergründen klingt es wahrscheinlicher, dass doch Clan-Kriminalität und der schwelende Streit zwischen den Familien der Grund für die Tat waren. Die Stader Polizei hatte anfangs immer wieder versucht, darauf zu drängen, von einer Einzeltat zu sprechen.

Die tödliche Messerattacke in Stade sorgte auch überregional für Aufsehen, machte das Thema Clan-Kriminalität zum Thema in der Landespolitik. Die CDU, insbesondere die hiesigen Landtagsabgeordneten Melanie Reinecke und Birgit Butter, machte Druck: „Wie viele Straftaten und Morde müssen nach Ansicht der Landesregierung geschehen, damit man von einem Schwerpunkt der Clan-Kriminalität spricht?“, fragte Reinecke im Plenum.

Innenministerin Daniela Behrens (SPD) hingegen wiegelte mit Blick auf die Zahlen ab: Zwischen 2022 und dem laufenden Jahr 2024 gab es laut Behrens 151 Verbrechen mit Bezug auf Clan-Kriminalität in der Stadt Stade. Sie betonte, dass die Fälle weniger als ein Prozent der Verbrechen in der Kriminalstatistik ausmachten - einen Hotspot für Clan-Kriminalität gebe es nicht.

Clan-Kriminalität nicht nur in den großen Städten

Dem NDR und „Report München“ lagen nach eigenen Angaben bereits Zahlen aus dem Lagebild Clan-Kriminalität 2023 des Landeskriminalamts (LKA) vor. 3610 Straftaten mit Bezug zur Clan-Kriminalität zählten die Ermittler. Der Anteil sei gering, „aber die Behörden gehen von einer hohen Dunkelziffer aus“, heißt es im NDR. Ein Blick zeige, dass sich Fälle der Clan-Kriminalität über alle Polizeidirektionen ziehen, auch im ländlichen Bereich, so Behrens im NDR. „Die Idee, dass das nur in Städten passiert, ist eine Idee, die mir Ermittler nicht so bestätigen.“

Aber woran liegt das? Clan-Experte Thomas Ganz rechnet in Stade mit einem Kern von rund 350 Personen, die Großfamilien mit kriminellen Strukturen zuzuordnen sind, schreibt der NDR. In kleineren Städten fänden Clans günstigen Wohnraum für die Familien und Geschäftsleerstände, die sie in „ihrem Sinne nutzen“ können, erklärt er. In solchen Geschäftsimmobilien wie Shisha-Läden komme es dann zu einer Durchmischung von legalen und illegalen Aktivitäten, so Ganz weiter.

Natürlich sind nicht alle Mitglieder von Clan-Familien kriminell. Unter Clan verstehen die Verfolgungsbehörden „eine Gruppe von Personen, die durch eine gemeinsame ethnische Herkunft, überwiegend auch durch verwandtschaftliche Beziehungen, verbunden ist“.

So arbeiten die kriminellen Clans auch im Norden

Kriminelle Clan-Strukturen seien gekennzeichnet „durch die Begehung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten jeglicher Deliktsart und -schwere aus diesem Umfeld, das sich durch ein hohes kriminelles Potenzial und eine allgemein rechtsfeindliche Gesinnung auszeichnet“.

Großfamilien mit kriminellen Strukturen versuchten, sich immer mehr der Strafverfolgung zu entziehen durch Absprachen innerhalb des Familienverbundes, Beeinflussung von Zeugen, Zahlungen von Blutgeld und Einschaltung von sogenannten Friedensrichtern (Streitschlichtern). Die hatten ihren Auftritt auch in Stade direkt nach der Tat und beruhigten die erregten Gemüter.

Dass man sich im Clan-Milieu zu Straftaten verabrede, sie gemeinsam begehe und auch vertusche, habe die Recherche erschwert, erklärt NDR-Redakteur Thomas Berbner. Und: „Familienehre spielt eine große Rolle“, sagt er über Clans. Wenn die Familienehre verletzt wurde, würden schnell Messer gezogen. So war es auch in Stade.

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