TWie blinde Menschen in Stade auf Sightseeingtour gehen

Heike Schlehe führt die Gruppe sehbehinderter Menschen durch Stade. Foto: Stehr
Mit Glöckchen am Schuh und in auffälligem Outfit bringt Gästeführerin Heike Schlehe blinden Menschen Stade näher. Was den Stadtrundgang so besonders macht.
Stade. Ein gelber DIN-A-4-Zettel mit drei großen schwarzen Punkten hängt am Rollator von Gisela Niemeyer. Die 76-jährige Staderin ist blind, kann auf einem Auge gar nichts mehr sehen, das andere Auge hat noch 2 Prozent Sehkraft. Das ist allerdings kein Grund, auf Stader Sehenswürdigkeiten zu verzichten. Heike Schlehe macht´s heute möglich.
Gästeführerin mit Glöckchen am Schuh
Heike Schlehe ist Gästeführerin in Stade und steht an diesem Montagnachmittag vor einer besonderen Herausforderung. Sie begleitet eine Gruppe sehbehinderte und blinde Menschen durch die Stadt.
Dieses Angebot der Stade Marketing und Tourismus GmbH ist brandneu. Damit die Teilnehmer Heike Schlehe gut folgen können, bindet sich die Gästeführerin zwei Glöckchen an die Schuhe. Außerdem ist sie auffällig in rot und weiß angezogen. Einige Teilnehmer können noch ein bisschen was erkennen und hell und dunkel unterscheiden.

Gästeführerin Heike Schlehe hat sich für den besonderen Stadtrundgang zwei Glöckchen an die Schuhe gebunden. Foto: Stehr
Auf dem Weg vom Schwedenspeicher über den Fischmarkt bis zum Johanniskloster muss Heike Schlehe darauf achten, dass sie immer genau erklärt, wo es lang geht und dass alle mitkommen. „Ich muss auch viel mehr beschreiben als bei einem Stadtrundgang mit Gästen, die sehen können“, sagt sie. Außerdem hat sie ein paar Überraschungen in ihrem kleinen Rucksack. Dazu später mehr.
Betroffene spenden sich gegenseitig Trost
Alle Teilnehmer sind Mitglieder der Selbsthilfegruppe Augentrost für sehbeeinträchtigte und blinde Menschen im Landkreis Stade. Keiner ist von Geburt an blind, alle leiden an unterschiedlichen Augenkrankheiten. Brigitte Heinzel ist 80 und hat seit einem Jahr die Diagnose feuchte Makuladegeneration. Ihre Sehkraft schwindet, lesen kann sie schon nicht mehr, auch fernsehen ist schwierig. Ihre Tochter hat sie auf die Selbsthilfegruppe aufmerksam gemacht, die sich seit 2016 jeden ersten Montag im Monat von 10 bis 12 Uhr im Pastor-Behrens-Haus in Stade trifft.
Zur Gruppe gehört auch Jacqueline Noormann. Mit ihren 34 Jahren zieht sie den Altersdurchschnitt bei der Führung heute stark nach unten. Bis vor kurzem hat sie selbst Gästegruppen geführt - bei Dialog im Dunkeln in der Hamburger Speicherstadt.
Momentan ist sie in Elternzeit und kümmert sich um ihren anderthalbjährigen Sohn. „Der bekommt zu Hause ein Glöckchen um, damit ich immer weiß, wo er ist“, sagt Jacqueline.

Jacqueline Noormann gehört zu den jüngeren Mitgliedern der Selbsthilfegruppe Augentrost. Foto: Stehr
Sie gehört zu den geschätzt 20.000 Menschen in Deutschland, die laut dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband die sogenannte Brailleschrift (umgangssprachlich Blindenschrift) lesen können.
Insgesamt leben in Deutschland etwa 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen. Die Mehrheit der Betroffenen ist älter als 60 Jahre.
Mit dem Blindenstock durch Stade
Im Alltag hat Jacqueline Hilfe von einer Assistenzkraft und einem Blindenführhund. Der ist heute aber nicht dabei. Stattdessen verlässt sich Jacqueline auf ihren Blindenstock und den Arm von Wolfgang Piltz.

Zwischenstopp bei Mutter Flint am Fischmarkt. Heike Schlehe beschreibt die Figur. Foto: Stehr
Er ist einer der Gruppenleiter von Augentrost und kann noch ein bisschen was sehen. Zur Hilfe nimmt er ein Monokular mit achtfacher Vergrößerung. Damit schaut er sich in der St.-Cosmae-Kirche um. Zur gleichen Zeit zündet Christine Arlt dort eine Kerze an. Sie gehört seit letztem Herbst zur Selbsthilfegruppe und ist dankbar für die vielen Angebote und den Austausch untereinander, sagt die 74-Jährige.
Stadtführung zum Fühlen und Riechen
Kurz vorher hat die Gruppe einen Stopp bei „Mutter Flint mit dem Stint“ am Fischmarkt eingelegt. Einige Teilnehmer befühlen die Bronzefigur und wundern sich über die Größe des Stintes.

Christine Arlt fällt durchs Fühlen auf, dass Mutter Flint wohl kaum einen Stint in der Hand hält. Foto: Stehr
„Weil ein Stint zu mickrig ausgesehen hätte, hält Mutter Flint einen Hecht in der Hand“, erklärt Heike Schlehe. Dann holt sie Flachs, Leinen, Leder und Seide zum Befühlen aus ihrem Rucksack. Während der Hansezeit wurde in Stade mit Stoffen gehandelt.
Am Ende der anderthalbstündigen Führung wird auch der Geruchssinn angesprochen.

Am Ende durften die Teilnehmer an frischen Kräutern riechen und raten, um was es sich wohl handelt. Foto: Stehr
Weil es früher am Johanniskloster einen Kräutergarten gab, hat Heike Schlehe Minze, Salbei und Kamille zum dran schnuppern dabei. Dann dürfen alle außerdem noch ein Salbeibonbon naschen.
Führungen für Menschen mit Beeinträchtigungen
Die Stade Marketing und Tourismus GmbH bietet auf Anfrage Stadtrundgänge für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen an. Außerdem gibt es Führungen für Schwerhörige und die stille Stunde - ein Einkaufsangebot für reizempfindliche Menschen. Buchung über die Tourist-Info am Hafen.
Kontakt zur Selbsthilfegruppe Augentrost gibt es unter 0163/ 5136289.
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