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Soziales

TPsychisch kranke Täter: Drahtseilakt zwischen Schutz und Freiheit

Manche psychische Erkrankungen können dazu führen, dass Menschen sich selbst oder andere gefährden. Die Abwägung zwischen Schutz und Freiheit ist ein Drahtseilakt.

Manche psychische Erkrankungen können dazu führen, dass Menschen sich selbst oder andere gefährden. Die Abwägung zwischen Schutz und Freiheit ist ein Drahtseilakt. Foto: Jonas Walzberg/dpa

Eine Kette von Gewalttaten eines psychisch Kranken im Kreis Stade macht aktuell Schlagzeilen. Warum wurde der Mann nicht früher gestoppt? Die Antwort darauf ist komplex.

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Von Anping Richter
Mittwoch, 10.09.2025, 11:50 Uhr

Landkreis. Erst in Stade, dann in Horneburg und schließlich in Buxtehude hat ein psychisch erkrankter Mann in den vergangenen Wochen immer wieder Menschen angegriffen und mehrere verletzt. Zuletzt wurde seinetwegen Ende August wie berichtet das Buxtehuder Stadthaus geschlossen.

Dass diese Kette der Gewalt nicht früher unterbrochen werden konnte, macht viele fassungslos. Ein Blick in die vergangenen Monate zeigt, dass dies in der Region kein Einzelfall ist. Der Schutz vor Eigen- und auch Fremdgefährdung macht oft Probleme.

Mehrere Gewaltexzesse im Landkreis

Januar 2025, Himmelpforten: Mieter rufen die Polizei, weil der Nachbar randaliert - wieder einmal. Der Mann wird gewalttätig, versucht, die Wohnungstür eines Nachbarn mit einer Axt zu öffnen. Es gelingt ihm, im Auto zu fliehen. Er baut einen Unfall und schlägt einer Polizistin mit der Faust ins Gesicht, bevor mehrere Polizisten ihn überwältigen. Er kommt in die Psychiatrie im Elbe Klinikum. Wenige Tage später ist er wieder zu Hause.

Mai 2025, Hollern-Twielenfleth: Ein psychisch kranker Mann hält Feuerwehr, Polizei und Nachbarschaft in Atem – wieder einmal. Er verlegt Stacheldraht am Fußweg, auf dem öffentlichen Grünstreifen und auf seinem vermüllten Grundstück und legt dort auch Fallen. Er beschimpft und bedroht Passanten und Beamte, unter anderem mit einem Samurai-Schwert und einer Heckenschere.

Juni 2025, Stade: Ein etwa 40-jähriger psychisch kranker Mann aus Stade stirbt in seiner Wohnung. Er ist Messi, meidet soziale Kontakte, hat auch gesundheitliche Probleme, will sich aber nicht helfen lassen. Nachbarn schalten den sozialpsychiatrischen Dienst ein und schreiben das Amtsgericht an. Der Briefkasten quillt über.

Ein Mediziner handelt: Weil der Mann nicht mitwirkt, erstellt er ein psychiatrisches Fremdgutachten, bei dem er auch Nachbarn befragt. Doch das Gericht entscheidet gegen eine Zwangseinweisung. Wenn der Mann nicht wolle, könne er nicht gezwungen werden. Als die Nachbarn das Schlimmste befürchten, rufen sie die Polizei. „Wir brechen die Tür erst auf, wenn es riecht“, sagen die Beamten. So geschieht das dann auch.

Hohe Hürden vor Einweisung in die Psychiatrie

Laut dem Niedersächsischen-Psychisch-Kranken-Gesetz (NPsychKG) ist eine Einweisung in die Psychiatrie nur zulässig, wenn von der Person eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für sich oder andere ausgeht, die anders nicht abgewendet werden kann. Über die einzelnen Fälle umfassend Informationen zu bekommen, ist schwierig - auch für die beteiligten Behörden.

„Um Datenschutz, Sozialdatenschutz und ärztliche Schweigepflicht kommen wir nicht herum“, sagt Kreissozialdezernentin Susanne Brahmst. Runde Tische, bei denen sich alle mit dem Fall befassten Akteure im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten austauschen, sind nur in Ausnahmefällen möglich - wie jüngst nach den Vorfällen in Buxtehude.

Sozialpsychiatrischer Dienst darf keine Medikamente ausgeben

Als Arzt unterliegt Martin Horn, der Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpDi) für den Landkreis Stade, der Schweigepflicht. Deshalb spricht er nicht über Einzelfälle, erklärt aber Grundsätzliches. Den SpDi gebe es vor allem für solche Menschen, die psychisch erkranken, womöglich nicht zum Arzt gehen, aber dringend Hilfe brauchen. „Zu 90 Prozent geht es um ein Beratungsangebot, das freiwillig angenommen wird. Medikamente dürfen wir nicht ausgeben“, erklärt Horn.

Betroffene können sich selbst beim SpDi melden. Er ist auch Anlaufstelle für Nachbarn, Angehörige und Polizei und verzeichnet rund 650 Fälle im Jahr mit etwa 4000 Kontakten vom Telefonat bis zum Hausbesuch.

Die Polizei verständigt grundsätzlich den SpDi, wenn sie vermutet, dass jemand psychisch krank ist und die Gefahr besteht, dass er sich selbst oder andere gefährdet. Pro Woche gibt sie zwischen fünf und zehn Meldungen an den SpDi, dessen Mitarbeiter einschätzen, ob sie der betroffenen Person per Post einen persönlichen Termin im Amt anbieten. Wenn es dringend angesagt scheint, wird ein Hausbesuch gemacht und bei Bedarf die Polizei hinzugezogen.

Polizei hat alle Infos über vorausgegangene Taten

Die Polizei hat Informationen zu allen Taten in Zusammenhang mit dem Betroffenen, die in Niedersachsen bekannt oder angezeigt wurden, auch wenn sie mehrere Jahre zurückliegen. Sie werden zentral im Vorgangsbearbeitungssystem der Polizei Niedersachsen hinterlegt und sind landesweit recherchierbar, erklärt Rainer Bohmbach, Pressesprecher der Polizeiinspektion Stade.

Der Mann, der zuletzt für die Stadthausschließung in Buxtehude sorgte, hatte in Horneburg schon zwei Rathausmitarbeiter angegriffen und einen Apotheker schwer verletzt. Vorher war er in Stade auffällig geworden, wo Jobcenter und Arbeitsagentur ein Hausverbot gegen den Mann aussprachen, die Polizei aber nicht verständigten. In die Akte komme nur, was mitgeteilt werde, sagt Bohmbach. Eine Anzeige sei nicht notwendig, aber mindestens ein Anruf - den es nicht gegeben hat.

Einweisung in Psychiatrie: Kriterien wie beim Haftbefehl

„Nicht jede auffällige Person darf festgehalten werden“, erklärt Martin Horn. Die Einweisung sei auch nicht Sache des SpDi. Ein hinzugerufener Arzt - im Kreis Stade in der Regel ein Psychiater, abends und an Wochenenden auch ein anderer Arzt aus dem Notdienst - muss die Person begutachten und ein Attest erstellen.

Die Staatsanwaltschaft kann eine einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beantragen, erklärt Oberstaatsanwalt Kai Thomas Breas von der Staatsanwaltschaft Stade. Doch die Hürden seien ähnlich hoch wie für einen Haftbefehl: Es müsse Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr oder erhebliche Wiederholungsgefahr bestehen.

Dabei sei die Verhältnismäßigkeit abzuwägen. In der Regel müsse eine vorherige Verurteilung vorausgehen. Erst nach einer persönlichen Anhörung entscheidet ein Richter abschließend, ob und wie lange jemand untergebracht wird - ohne weiteres Attest maximal sechs Wochen und nur bei akuter Handlungsnotwendigkeit.

Horn sieht Mangel an Therapieangeboten als Problem

Martin Horn hat in der forensischen Psychiatrie gearbeitet und weiß, dass die Hürden nach einer Gesetzesreform im Jahr 2016 höher geworden sind. Sie soll Betroffene besser vor unverhältnismäßigen und unverhältnismäßig langen Unterbringungen schützen.

Ein Auslöser war der Fall Gustl Mollath: Er wurde in den psychiatrischen Maßregelvollzug eingewiesen und dort fünf Jahre in Folge untergebracht. Dann wurde er in einer neuen Hauptverhandlung freigesprochen.

Horn sieht vor allem ein anderes Problem: zu wenig Therapieangebote. Er verweist auf die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie DGPPN, die in einem Positionspapier mit der Überschrift „Das beste Mittel der Gewaltprävention ist Therapie“ einen Ausbau der Versorgungsstrukturen fordert sowie Maßnahmen zur Förderung der sozialen Integration und Teilhabe.

Das Risiko, dass ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung gewalttätig wird, entstehe aus der Wechselwirkung von Erkrankung und weiteren Belastungs- und Risikofaktoren wie dem Konsum von Drogen oder Alkohol, Gewalterfahrungen, sozialer Isolation, Armut und Wohnungslosigkeit.

Bei Geflüchteten - der Mann, der die Rathaussperrungen auslöste, floh aus dem Sudan nach Deutschland - gebe es diese Belastungsfaktoren häufiger, sagt Martin Horn. Ansonsten gebe es weltweit „unabhängig von der Kultur in allen Gesellschaften einen konstanten Anteil von etwa 6 Prozent mit psychischen Erkrankungen, wobei der Anteil an Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis weltweit bei 1 Prozent liegt“.

Experten fordern: Möglichkeit der Einweisung häufiger nutzen

Eine der Kernforderungen aus dem Positionspapier der DGPPN ist aber auch, dass die rechtliche Möglichkeit, Betroffene mit erkennbarem Gewaltpotenzial auch gegen ihren Willen in einer Psychiatrie zu behalten oder neu einzuweisen, häufiger genutzt werden müsse.

Es müsse immer wieder zwischen der individuellen Autonomie und der Sicherheit der Gemeinschaft abgewogen werden, sagt DGPPN-Präsidentin Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank: „Ich habe den Eindruck, dass wir uns in den letzten Jahren sehr weit auf die Seite der Autonomie gestellt haben und damit vermutlich höhere Risiken in Kauf genommen haben.“

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