TSo viele Überstunden leisten Menschen im Kreis Stade umsonst

Nicht überall werden Arbeitszeiten erfasst. Dann können Arbeitnehmer nur Absprachen mit ihren Vorgesetzten über Überstunden treffen. Foto: Schuldt/dpa
Es sind alarmierende Zahlen: Zehntausende Beschäftigte im Landkreis arbeiten zum Nulltarif. Eine Branche ist besonders betroffen - und eine Gruppe will dringend länger arbeiten.
Landkreis. Rund 1,46 Millionen Überstunden haben die Menschen im Landkreis Stade im vergangenen Jahr am Arbeitsplatz zusätzlich geleistet. Das geht laut der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) aus dem neuesten „Überstunden-Monitor“ des Pestel-Instituts hervor. Darunter seien 810.000 Arbeitsstunden zum Nulltarif ohne Bezahlung geleistet worden.
Ein weiteres pikantes Ergebnis der Plus-Stunden: „Alle Beschäftigten zusammengenommen haben den Unternehmen im Landkreis Stade durch unbezahlte Mehrarbeit rund 11,66 Millionen Euro quasi ‚geschenkt‘. Und das ist schon äußerst sparsam – nämlich nur auf Mindestlohn-Basis – gerechnet“, sagt Dieter Nickel von der NGG Bremen-Weser-Elbe. Außerdem sei der Überstundenberg auch ein Gradmesser für den „massiven Fachkräftemangel“.
Die Wissenschaftler des Pestel-Instituts haben bei ihrer Untersuchung aktuelle Mikrozensusdaten ausgewertet. Basis der Überstunden-Berechnung ist die Übertragung von Branchen-Durchschnittswerten auf die Beschäftigungsstruktur vom Kreis Stade.
Überlange Arbeitszeiten: Vor allem unter Selbstständigen verbreitet
Laut dem Statistischem Bundesamt geht die Bereitschaft der Bundesbürger, überlang zu arbeiten, jedoch bundesweit zurück. Demnach verbrachten von den rund 30 Millionen Menschen mit Vollzeitjobs im vergangenen Jahr 8,3 Prozent gewöhnlich mehr als 48 Stunden in der Woche im Job. Das waren zwar immer noch knapp 2,5 Millionen Menschen, aber auch der niedrigste Stand seit 1991. Im Jahr 2021 waren noch 8,9 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen nach eigenen Angaben mit überlangen Arbeitszeiten konfrontiert.
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Diese sind vor allem unter Selbstständigen verbreitet, für die das deutsche Arbeitszeitgesetz mit einer Obergrenze von 48 Stunden in der Woche wie auch bei Freiberuflern nicht gilt. Haben die Selbstständigen in der Firma Leute angestellt, sind 48,2 Prozent der Chefinnen und Chefs regelmäßig länger als 48 Stunden im Betrieb. Bei Solo-Selbstständigen beträgt die Quote noch 26 Prozent.
Jeder 20. muss länger als 48 Stunden arbeiten
Unter den Arbeitnehmern muss jeder 20. länger als 48 Stunden arbeiten. Auch hier nennt das Gesetz eine ganze Reihe von Ausnahmen etwa für Leitende Angestellte, Chefärzte oder Pfarrer. Andere Regelwerke gelten für das Personal in der Luftfahrt, Binnenschifffahrt und im Straßentransport.
Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz darf die tägliche Arbeitszeit für Angestellte im Schnitt acht Stunden betragen, an einzelnen Tagen sind auch zehn Stunden erlaubt. Auch die Ruhezeiten zwischen zwei Arbeitsperioden sind geregelt. Die genaue Arbeitszeit regeln die jeweiligen Arbeits- oder Tarifverträge. In der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie gilt beispielsweise für Vollzeit die 35-Stunden-Woche. Darüber hinausgehende Überstunden müssen vereinbart werden.
Konflikte gibt es derzeit um die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung, die Europäischer Gerichtshof und Bundesarbeitsgericht verpflichtend verlangen.

Arbeitgeber können Überstunden in der Regel nur dann anordnen, wenn eine entsprechende Regelung im Arbeits- oder Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung zu finden ist. Foto: Zacharie Scheurer/dpa-tmn
Überlange Arbeitszeiten sind häufig ein Problem von besonders gut qualifizierten Erwerbstätigen, wie Auswertungen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) zeigen. Diese Menschen - Männer wie Frauen - handeln im Job weitgehend selbstbestimmt, wollen viel leisten und Karriere machen. Das sollte aber nicht zu 60-Stunden-Wochen führen, mahnt IAB-Experte Enzo Weber. Es gelte, die Jobs ins eigene Leben einzupassen, was auch immer mehr Beschäftigte einforderten. Dazu seien flexible Arbeitszeitmodelle und mobile Arbeitsmöglichkeiten wirksame Instrumente.
Teilzeitjobs und Mini-Jobber als Problem
Eindeutig mehr arbeiten wollen hingegen mehr als 700.000 Menschen, die laut Statistischem Bundesamt unfreiwillig in Teilzeitjobs stecken und dies in der Mikrozensus-Befragung als „Notlösung“ betrachten. Das waren im vergangenen Jahr 5,7 Prozent der rund 12,5 Millionen Teilzeitbeschäftigten hierzulande. Auch dieser Anteil geht zurück, er hat sich innerhalb von zehn Jahren beinahe gedrittelt (2012: 15,4 Prozent).
Viele Unterbeschäftigte stecken zudem nach Webers Einschätzung in beruflichen Sackgassen. Bis zur Hälfte der Mini-Jobber wolle eigentlich mehr arbeiten, habe sich aber aus verschiedenen Gründen mit der gegenwärtigen Situation arrangiert. „Viele bräuchten einen Impuls von außen, um ihre Situation aufzubrechen“, ist der Arbeitsmarktforscher überzeugt.
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Allein 24.000 Überstunden in der Gastronomie
„Allein in Hotels, Restaurants und Gaststätten leisteten die Beschäftigten im vergangenen Jahr im Landkreis Stade rund 24.000 Überstunden. 10.000 davon ohne Bezahlung – quasi für umsonst“, berichtet das Pestel-Institut an einem konkreten Beispiel.
Mit Blick auf die Überstunden warnt die NGG Bremen-Weser-Elbe: Hotellerie und Gastronomie könnten nicht dauerhaft auf die „Goodwill-Überstunden“ ihrer Beschäftigten bauen. „Es wird höchste Zeit, das Fachkräfteloch zu stopfen, das die Corona-Pandemie noch vergrößert hat. Das klappt allerdings nur, wenn Hotels und Restaurants bereit sind, attraktive Löhne zu bezahlen.
Perspektivisch muss der Gastro-Startlohn für eine Köchin oder einen Restaurantfachmann nach der Ausbildung bei 3000 Euro pro Monat für einen Vollzeitjob liegen“, so Dieter Nickel. Dieses „Lohn-Ziel“ müsse die Gastro-Branche Schritt für Schritt erreichen. Nur dann werde es gelingen, junge Menschen für eine Ausbildung im Hotel oder Restaurant zu gewinnen.
Mittlerweile seien 60 Prozent der Gastro-Beschäftigten im Kreis Stade Mini-Jobber.
Abfeiern oder ausbezahlen lassen: Was bei Überstunden gilt
Kann der Arbeitgeber Überstunden verlangen?
In der Regel: Nein - sofern keine anderweitige Regelung im Arbeitsvertrag, Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung zu finden ist. „Beschäftigte sind nur verpflichtet, solche Arbeitszeiten abzuleisten, die vertraglich vereinbart sind“, erklärt Tjark Menssen vom Rechtsschutz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
Gibt es einen Betriebsrat, muss dieser der Anordnung von Überstunden zustimmen. „Selbst in Fällen einer solchen Zustimmung bindet das den Beschäftigten aber nicht einseitig“, so Menssen. „Lediglich in Ausnahmefällen, etwa Notsituationen, kann sich ein Beschäftigter einer einseitigen Anordnung kaum entziehen.“
Der Arbeitnehmerkammer Bremen zufolge sind Notsituationen jedoch nur solche Situationen, die nicht vorhersehbar sind. Personalmangel fällt demnach nicht darunter. Ein Beispiel für eine Notsituation wäre hingegen eine Überschwemmungsgefahr, bei der die Existenz des Arbeitgebers gefährdet ist.
Muss der Arbeitgeber Überstunden bezahlen?
„Grundsätzlich ja“, erklärt die Arbeitnehmerkammer - wenn sie aufgrund der Vorgaben im Arbeitszeitgesetz nicht als Freizeitausgleich zu nehmen sind.
Voraussetzung ist jedoch, dass der Arbeitgeber die Überstunden angeordnet, gebilligt oder geduldet hat. Billigen heißt demnach, dass der Arbeitgeber nachträglich mit den Überstunden einverstanden ist. Eine Duldung liegt vor, wenn Arbeitgeber wissen, dass Überstunden anfallen und nicht dagegen einschreiten.
Gibt es einen Anspruch auf Zuschläge für Überstunden?
Nein. Ein Anspruch auf Überstundenzuschläge besteht der Arbeitnehmerkammer Bremen zufolge nur, wenn es hierfür eine Regelung im Arbeitsvertrag, im Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung gibt.
Kann man die Überstunden stattdessen auch abbummeln?
Grundsätzlich werden Überstunden in Geld entlohnt, so die Arbeitnehmerkammer Bremen. Allerdings kann ein Arbeits- oder Tarifvertrag auch vorsehen, dass Überstunden mit Freizeit ausgeglichen werden.
Ist beides möglich, sollte man beachten, dass eine Auszahlung zu einem höheren Monatsbrutto führt und damit automatisch zu einem höheren zu versteuernden Einkommen. Ein zusätzlicher freier Tag ist demnach hingegen quasi „steuerfrei“, heißt es auf der Webseite des DGB Rechtsschutzes.
Gut zu wissen: Ein eigenmächtiger Abbau von Überstunden ist nicht zulässig. Und auch einen Anspruch auf einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem sie die Stunden abbummeln, haben Arbeitnehmer nicht - außer eine entsprechende Regelung steht im Arbeits- oder Tarifvertrag. Arbeitgeber können den Abbau von Überstunden hingegen einseitig im Rahmen ihres Weisungsrechts anordnen, wenn es keine anderweitigen Regelungen gibt - und die Beschäftigten dem Freizeitausgleich statt einer Entlohnung etwa mit dem Arbeitsvertrag zugestimmt haben.
Wird man während des Abbummelns von Überstunden krank, bekommt man übrigens keinen Ersatz dafür. Im Unterschied zu der gesetzlichen Regelung im Falle von Krankheit während eines genehmigten Urlaubs kennt das Gesetz keine vergleichbare Regelung beim Überstundenabbau, so Anke Marx, Juristin bei der Arbeitskammer, in der Zeitschrift „AK-Konkret“ (03/2023). (dpa/tmn/tip)