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Pilotprojekt in Drochtersen

TTelemedizin als Alternative zum Hausarztbesuch? So profitieren Mediziner und Patienten

Im Telemedizin-Raum in Drochtersen zeigen Versorgungsassistentin Sandra Lütje und ihre Kollegin Meike Dirks, wie es geht: Blutdruck messen, Daten eingeben und direkt in die Arztpraxis übermitteln.

Im Telemedizin-Raum in Drochtersen zeigen Versorgungsassistentin Sandra Lütje und ihre Kollegin Meike Dirks, wie es geht: Blutdruck messen, Daten eingeben und direkt in die Arztpraxis übermitteln. Foto: Anping Richter

Viele Arztpraxen auf dem Lande sind überlastet. Telemedizin könnte sie entlasten und Patienten lange Fahrten und überfüllte Wartezimmer ersparen. Wie das funktionieren könnte, wird in einem Pilotprojekt in Drochtersen ausprobiert.

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Von Anping Richter
Montag, 01.04.2024, 11:39 Uhr

Landkreis. Meike Dirks streckt den Arm aus und lässt sich die Manschette umlegen. Sitzt sie fest? Ja, alles okay. Telemedizin-Assistentin Sandra Lütje kann loslegen. Die Werte, die sie auf dem Blutdruck-Messgerät abliest, gibt sie in die Patientenmaske auf dem Computerbildschirm ein.

Sie werden direkt in die Hausarztpraxis übermittelt. Dort kann ihr Arzt sofort prüfen, ob die Werte in Ordnung oder so besorgniserregend sind, dass Meike Dirks sich persönlich vorstellen muss.

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Blutdruck, Sauerstoffsättigung oder Fieber messen, Herz oder Lunge abhören, mit Patienten umgehen: All das geht Sandra Lütje leicht von der Hand. Sie ist Pflegeberaterin, Altenpflegerin und Arzthelferin - und jetzt hat sie ein neues Aufgabengebiet, das sie sehr spannend findet: Telemedizin. Die Pflegeberaterin vom Pflegedienst Stadt & Land in Drochtersen ist jetzt Versorgungsassistentin im Pilotprojekt PuG (Pflege und Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum stärken) in Drochtersen und Nordkehdingen.

Telemedizin, die Untersuchung von Patienten über Video und Internet, könnte dazu beitragen, die ärztliche Versorgung auf dem Lande zu verbessern, überlaufene Hausarztpraxen entlasten und Patienten lange Wege und Wartezimmeraufenthalte ersparen.

In Drochtersen und Nordkehdingen wird ausprobiert, wie das funktionieren könnte: Meike Dirks ist in Wirklichkeit Krankenschwester und eine Kollegin von Sandra Lütje. Doch so, wie die beiden es hier im neuen Telemedizin-Raum vorführen, sollen Patienten aus der Region sich schon bald tatsächlich untersuchen lassen können. Ein Praxistest mit Hausärzten steht bevor.

Dr. Jürgen Hussmann aus Drochtersen, Dr. Rainer Feutlinske aus Wischhafen und Dr. Miguel Ángel Ramos aus Hechthausen sind bei dem Projekt mit im Boot, das seit einem Jahr und noch bis Februar 2026 läuft. Es wird über den Europäischen Sozialfonds mit 560.000 Euro gefördert und von der Gemeinde Drochtersen mit 84.000 Euro und der Samtgemeinde Nordkehdingen mit 56.000 Euro kofinanziert. Die Projektleitung liegt bei Melanie Philip und Dr. Christian Vaske von den Pflegepionieren.

Der Telemedizin-Raum soll feste Anlaufstelle werden

Mit dabei ist auch das Zentrum für Telemedizin in Bad Kissingen, das seit 20 Jahren Erfahrung mit Telemedizin sammelt. Bisher sieht das Modell vor, dass eine Medizinische Fachassistentin (MFA) ihre Ausrüstung im Rucksack dabei hat, Hausbesuche macht und den Hausarzt digital zuschaltet, berichtet Dr. Christian Vaske: „Doch auch dafür werden Leute gebraucht.“

Das Besondere am Pilotprojekt in Drochtersen ist, dass es hier einen Telemedizin-Raum gibt. In der Kirchstraße 10, gegenüber der Alten Apotheke, soll Sandra Lütje im Testbetrieb zunächst an zwei festen Vormittagen in der Woche da sein - wann tatsächlich die beste Zeit ist, in der es auch für die Hausärzte gut passt, soll sich noch herausstellen.

Wer akute Beschwerden hat, aber kein Notfall ist, kann sich bei ihr melden - online oder telefonisch. „Wer in der Hausarztpraxis anruft, muss oft sehr lange warten, bis er durchkommt. Hier bei uns dürfte das schnell gehen“, sagt Sandra Lütje. Sie hat viele Möglichkeiten, den Arzt bei der telemedizinischen Untersuchung zu unterstützen.

Mit dem Stethoskop kann sie Herz und Lunge abhorchen und das, was sie hört, aufnehmen und übermitteln. Mit dem Otoskop kann sie ins Ohr sehen und Aufnahmen machen: „Dann kann auch der Arzt bis zum Trommelfell sehen.“ Sie kann Blutzucker, Blutdruck und Sauerstoffsättigung messen und Fotos von Wunden oder kleinen Hautveränderungen übermitteln.

Der Arzt bekommt zum Video-Patientengespräch viele relevante Daten

All das wird eingegeben und über die Telematik-Infrastruktur in die Hausarztpraxis gesendet, wo eine passende Software vorliegen sollte. Wenn der Arzt dann per Videotelefonat mit dem Patienten spricht, hat er schon viele handfeste Informationen für die Entscheidung, ob er den Patienten persönlich sehen muss - sofort, in einer Stunde, morgen oder vielleicht gar nicht.

Gerade in Seniorenheimen kann Telemedizin sehr nützlich sein, sagt Sandra Lütje. Ihre Kollegin, die Krankenschwester Meike Dirks, gibt zu bedenken: „Pflegekräfte rufen oft lieber einmal mehr den Arzt an, um sich abzusichern.“

Das könnte sich durch die Möglichkeit der Telemedizin ändern. Gerade bei Routineuntersuchungen bietet es Vorteile: Herzpatienten erspart ein telemedizinischer Check-up mit EKG das Warten auf einen Termin beim Kardiologen. Bei der Wundversorgung kann der Arzt anhand von Bildern - mit Maßangabe - sehen, ob die Heilung gut verläuft.

Sandra Lütje wird mit ihrem Tele-Rucksack in Pflegeeinrichtungen unterwegs sein und Kolleginnen die Handhabung zeigen, sodass die Telemedizin in Pflegeheimen und bei Pflegediensten bekannter wird.

Ärzte könnten aus dem Homeoffice arbeiten

Vor allem ältere Ärzte sehen die Notwendigkeit von Telemedizin noch nicht und sagen, dass ihre Patienten noch ausreichend schnell Termine bekommen, berichtet Sandra Lütje. Aber es sei klar, dass die medizinische Versorgung auf dem Lande schwieriger wird.

Gerade in Kehdingen und Drochtersen gebe es viele ältere Ärzte, die demnächst in den Ruhestand gehen, weiß Christian Vaske. Auch das war ein Grund, das Projekt gerade hier zu starten. Meike Dirks sieht einen Vorteil für Ärztinnen und Ärzte in der Familienphase: „Telemedizin kann man gut im Homeoffice machen, zum Beispiel in der Elternzeit.“

Aus Lütjes Sicht wäre es eine tolle Sache, wenn die Telemedizin-Assistentin für mehrere Praxen unterwegs sein und von Patient zu Patient fahren könnte. Bisher kann das nicht mit den Kassen abgerechnet werden, weil sie irgendwo fest angestellt sein muss. Doch wenn das ermöglicht würde, könnte es den Patienten viel bringen: Die Rückkehr des Hausbesuchs - mit online zugeschaltetem Arzt.

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