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Mordserie

TTodesspur entlang der A27: Weitere Frau vom „Göhrde-Mörder“ verfolgt

Die heute 59 Jahre alte Cuxhavenerin erzählt von einem Vorfall aus dem Spätsommer 1977, als sie vom mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann mit dem Fahrrad in ihrem Heimatort Wehden verfolgt wurde.

Die heute 59 Jahre alte Cuxhavenerin erzählt von einem Vorfall aus dem Spätsommer 1977, als sie vom mutmaßlichen Serienmörder Kurt-Werner Wichmann mit dem Fahrrad in ihrem Heimatort Wehden verfolgt wurde. Foto: Döscher

Der Serienmörder Kurt-Werner Wichmann bekommt auch im Nachbarkreis immer mehr ein Gesicht. Jetzt berichtet eine weitere Frau von einer unheimlichen Begegnung. Sie wurde von ihm mit dem Fahrrad verfolgt. Unweit einer Todesspur entlang der A27.

Von Christian Döscher Freitag, 08.12.2023, 17:40 Uhr

Landkreis Cuxhaven. Dieser Blick ist es, der dem 13 Jahre alten Mädchen signalisiert, du musst hier weg. Sie strampelt, was ihre kurzen Beine hergeben. „Ich war klein, aber flink, sehr flink“, erzählt die heute 59-Jährige, nennen wir sie U.K. Was sie damals im Spätsommer 1977 nicht ahnt, sie wird von einem mutmaßlichen Serienmörder verfolgt, hier zwischen den kleinen Dörfern Wehden und Laven nahe Bremerhaven.

Kurt-Werner Wichmann ist höchstwahrscheinlich verantwortlich für die „Göhrde-Morde“, bei denen 1989 zwei Paare in einem Waldgebiet bei Lüneburg getötet worden sind, und für den Tod von Birgit Meier, die auch 1989 ermordet worden ist. Ihre Leiche findet man erst 2017, unter Wichmanns Garage.

So sah Kurt-Werner Wichmann Mitte der 70er-Jahre aus. Er wohnte bei einer Zahnarztwitwe im Landkreis Karlsruhe.

So sah Kurt-Werner Wichmann Mitte der 70er-Jahre aus. Er wohnte bei einer Zahnarztwitwe im Landkreis Karlsruhe. Foto: privat

Wichmann wahrscheinlich für mehrere Morde verantwortlich

Doch Wichmann dürfte für mehr als diese fünf Morde verantwortlich sein. Deutschlandweit. Auch zwischen Cuxhaven und Bremerhaven. Die "Nordsee-Zeitung" hat über die „Disco-Morde“ berichtet, über die jungen Frauen, die zwischen 1977 und 1986 verschwinden. Sieben Frauen. Nur in einem Fall ist eine Leiche gefunden worden.

Die Todesspur führt von Nord nach Süd durch das Elbe-Weser-Dreieck, entlang der A27. Ins Muster passen die Beobachtungen zweier Mädchen, die davon überzeugt sind, Mitte der 70er Jahre in der Nähe der Altenwalder Disco „Goldener Drache“ in einen vermutlich roten Sportwagen gestiegen zu sein, auf dem Beifahrersitz Kurt-Werner Wichmann. Sie entkommen ihm glücklicherweise.

Jetzt dieser Vorfall: Erstmals vor zwei Jahren bringt U.K. ihr Erlebnis überhaupt mit den „Disco-Morden“ in Verbindung. Die Frau, die heute in Cuxhaven lebt, liest in der Zeitung über die verschwundenen Frauen, erst jetzt werden ihr diese Zusammenhänge klar, den Begriff „Disco-Morde“ hört sie das erste Mal. Verschwunden oder getötet wurden Anja Beggers, Angelika Kielmann, Anke Streckenbach, Andrea Martens, Christina Bohle, Jutta Schneefuß und Irene Warnke. Ob ihr Fall „da reinpasst?“, fragt U.K. sich und ruft die Polizei in Cuxhaven an.

Der schildert sie die unheimliche Begegnung aus dem Jahre 1977, wirklich interessieren tun sich die Beamten nicht für ihre Schilderungen. Erinnerungen, „die man einfach nicht vergisst“.

13-jähriges Mädchen will eine Radtour machen

U.K. will an diesem Spätsommernachmittag noch mit dem Rad los. Zwischen Wehden, ihrem Heimatort, und dem Nachbarort Laven gibt es einen Radweg. Vor dem Haus steht das Fahrrad ihres Bruders, sie schnappt sich das Rad, das größer ist als ihr eigenes. Sie will bis zu einer Brücke und dann zurück. Es geht fast immer geradeaus durch den Wald. Auf einer Kreuzung kommt jemand von rechts.

Den Weg von der Hauptstraße kommend nutzen oft Fahrradfahrer, die ihr Auto auf einem Parkplatz kurz vor Wehden parken. Das Mädchen will den anradelnden, merkwürdig aussehenden Mann „vor lassen“, fährt bewusst langsamer, doch der Mann wird ebenfalls langsamer, kommt auf dem Rad sitzend fast zum Stehen.

U.K. ist gezwungen, vorauszufahren. Die Brücke kann man von hier schon sehen. Noch findet sie das Verhalten des Mannes nur komisch, denkt sich aber nichts Schlimmes dabei. Er könnte sie überholen, macht es aber nicht. In einem Bruchteil von Sekunden sieht sie ihn an. Dieser Blick.

Der mutmaßliche Serienmörder hatte eine Vorliebe für Autos.

Der mutmaßliche Serienmörder hatte eine Vorliebe für Autos. Foto: privat

Der stechende Blick lässt das Mädchen wachsam werden

„Dieser Blick hat mir das Leben gerettet“, erzählt die Cuxhavenerin. Davon ist sie heute überzeugt, heute, wo sie sicher ist: dieser Mann ist Kurt-Werner Wichmann. Der Blick lässt sie sehr wachsam werden.

An der Brücke hält sie sich hinten am Geländer fest, wartet und wartet („so langsam kann der doch gar nicht sein“), dreht sich zögerlich um – und erblickt ihn. Er hält sich am Anfang der rund 30 Meter langen Brücke fest.

Vor der 59-Jährigen läuft das Geschehen aus dem Jahr 1977 wie in einem Film ab, sie erkennt die örtlichen Gegebenheiten sofort („es hat sich nicht viel geändert“). Mit dem Auto fährt sie als Beifahrerin die Strecke ab, steigt immer wieder aus. Am Steuer sitzt Reinhard Chedor. Der ehemalige Chef des Landeskriminalamtes in Hamburg recherchiert seit Langem diese sogenannten Cold Cases. Er hat schon den Fall Birgit Meier mit aufgelöst, aber auch mögliche weitere Morde Wichmanns lassen ihn nicht los.

U.K. fasst schnell Vertrauen zu dem 71-Jährigen. Sie fühlt sich ernst genommen, wertgeschätzt. Ganz anders als vor zwei Jahren bei der Polizei. Der frühere Spitzenpolizist wird sauer, wenn er vom Verhalten der Polizei hört. „Die Polizei in Cuxhaven betont, dass sie Wichmann bei den Disco-Morden nicht ausschließen, aber hier würde es zumindest zu den Standard-Maßnahmen gehören, der Frau Fotos von Wichmann vorzulegen.“ Das passiert aber nicht. U.K.: „Ich hab alles genau erzählt, die wollten aber immer nur eine Täterbeschreibung haben.“ Und obwohl sie den Mann gut beschreiben kann, reicht es den Beamten offensichtlich nicht. Ihnen schwebt wohl eine Phantomzeichnung vor.

Die Todesspur entlang der A27

Der Serienmörder Kurt-Werner Wichmann bekommt auch im Cuxland immer mehr ein Gesicht. Jetzt berichtet eine weitere Frau von einer unheimlichen Begegnung.

Auf Fotos erkennt die Frau Kurt-Werner Wichmann

Das mit den Fotos holt Chedor nach, in einem Gasthaus in Wehden schaut sich U.K. Bilder an. Es ist wuselig an diesem Sonntag, viele Menschen genießen ihre Sahnetorte mit Kaffee, es wird laut gesprochen an den Nebentischen. U.K. ist ganz ruhig, aufgeräumt, klar in ihren Aussagen. Die Erinnerungen an 1977 kommen alle paar Jahre mal hoch, traumatisiert sei sie nicht. Nur wenn jemand hinter ihr läuft, wird sie unruhig. Sie erkennt Wichmann sofort, vor allem am Blick. Schon wenige Wochen vorher, Ende Oktober, reagieren Kopf und Körper heftig. Die Cuxhavenerin liest den Zeitungsbericht über Wichmann und die beiden Tramperinnen vor der Disco in Altenwalde - und sieht die Fotos des Serienmörders. Das ist er, der Mann, der sie als 13-Jährige verfolgt hat.

Es sind nicht die Fotos, auf denen der Serienmörder wie ein Sunnyboy daherkommt, die die Cuxhavenerin zielgerichtet im Gasthaus in Wehden zur Seite legt. Es sind die, auf denen Wichmanns stechender Blick deutlich wird. Sie hat, nachdem sie sich bei Chedor und der NORDSEE-ZEITUNG gemeldet hat, zahlreiche TV-Dokumentationen, -filme und Podcasts gesehen und gehört. Am Blick bleibt sie hängen. Wie eine frühere Geliebte Wichmanns, die in einem Podcast von einem klaren, lieben Auge („John-Wayne-Auge) und einem komischen Auge spricht. Das dominiert, wenn Wichmann angespannt gewesen sei.

An dieser Kreuzung kam der mutmaßliche Serienmörder von rechts mit dem Fahrrad.

An dieser Kreuzung kam der mutmaßliche Serienmörder von rechts mit dem Fahrrad. Foto: Screenshot

Der mutmaßliche Mörder sieht bleich und krank aus

Damals in Wehden sieht der 28 Jahre alte Wichmann nicht wie ein Frauenschwarm aus, für Spätsommer „ungewöhnlich bleich, krank, als wenn er gerade aus dem Gefängnis kam“. U.K. vorne am Geländer, er am Ende, halb im Gebüsch. Jetzt gibt es nur noch eines: Vollgas. Wichmann mit gleichem Tempo hinterher. Unterwegs auf der Hälfte der Strecke kommt ihr noch ein blau-grauer VW Käfer entgegen, drinnen sitzt ein Bauer. Aber sie kommt nicht auf die Idee, den Bauer auf sich aufmerksam zu machen, ihn anzuhalten. Sie merkt, hier stimmt was nicht, aber dass womöglich ihr Leben in Gefahr ist? „Daran denkt man doch nicht.“

Gesprochen wird zwischen den beiden nicht. Der Mann ist unauffällig angezogen, er sieht „verloren“ aus. Das Fahrrad „schon merkwürdig“, alt. Ihr gesunder Menschenverstand sagt ihr aber, dass sie treten muss, mit „Schmackes“. Umkehren ist für das Mädchen keine Option. Auch wenn es jetzt Richtung Laven immer einsamer wird. Ihr ist klar, der Mann hinter ihr ist nicht auf einer „Spazierfahrt“. Sie ist froh, nicht ihr eigenes, kleines Fahrrad genommen zu haben.

Zwischen Wehden und Laven gibt es viel Wald. Hier hat der mutmaßliche Serienmörder Kurt-Werner Wichmann ein 13 Jahre altes Mädchen verfolgt.

Zwischen Wehden und Laven gibt es viel Wald. Hier hat der mutmaßliche Serienmörder Kurt-Werner Wichmann ein 13 Jahre altes Mädchen verfolgt. Foto: Screenshot

Ein Verfolger? Ihr schenkt keiner Glauben

Völlig aus der Puste und aufgeregt kommt sie kurz vor dem kleinen Dorf (Laven hat noch weniger Einwohner als der 400-Seelen-Ort Wehden) an einer Weide vorbei, auf der gemolken wird, sie erkennt eine Freundin und deren Familie. „Da ist einer hinter mir her“, ruft sie dem Bauern entgegen. „Da ist doch keiner“, bekommt sie nur zu hören, ohne dass sich jemand die Mühe macht, nachzugucken und ihr zu glauben. „Beruhig dich, Kindchen, komm mit uns nach Hause und iss gleich mit uns Abendbrot.“ Ein Verfolger? Das passt offenbar nicht in die dörfliche Idylle. Und doch, U.K. dreht sich nochmal um und sieht den Mann unweit der Weide im Gebüsch stehen. Er beobachtet die Szenerie und lauert.

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Nach dem Abendbrot steht die 13-Jährige wieder vor der Frage „Wo fahre ich lang?“ Zurück oder lieber den Umweg über die Hauptstraße zwischen Laven und Wehden, Richtung Spaden. Sie wählt den Umweg. Die Angst, Wichmann erneut zu begegnen, fährt mit.

Zu Hause gibt es eher Gemecker als Verständnis für die Ängste der Tochter. Auch die Tränen, die auf einmal fließen, beeindrucken den Vater nicht. Er ist sogar der Meinung, das Mädchen habe sich falsch verhalten, hätte sich umdrehen sollen und den Mann fragen, was er wolle. „Da hab ich nur gedacht: Das meint er jetzt nicht ernst?“

Die 59-Jährige will andere Frauen ermutigen, sich auch zu melden

Wenn U.K. heute auf die Mädchen schaut, die als verschwunden gelten, blickt sie besonders auf Anja Beggers. Oktober 1977. Fast zeitgleich wird sie von einem Mann verfolgt, den sie als Kurt-Werner Wichmann identifiziert. Gibt es noch mehr Frauen und Mädchen, die diesem Mann begegnet sind? Die heute 59-Jährige hat sich auf den Zeitungsbericht der „Nordsee-Zeitung“, der auch in Cuxhaven erschienen ist, gemeldet. Sie will anderen Frauen Mut machen, ihr es gleich zu tun, wenn sie ähnliche Erlebnisse hatten. Sie schätzt den vertrauensvollen Umgang mit ihrer Person. Im Gespräch merkt man, mit Reinhard Chedor ist ein Profi am Werk, jemand, der zuhören kann, ein Ermittler mit Empathie.

Zwischen 1977 und 1986 verschwanden diese sechs jungen Frauen.

Zwischen 1977 und 1986 verschwanden diese sechs jungen Frauen. Foto: privat/Eggeling, Polizei, Colour

Chedor arbeitet weiter an dem Puzzle Wichmann, kommt er für weitere Taten infrage? Wo gibt es wiederkehrende Muster? Neben Fahrten mit Autos tauchen auch immer wieder Fahrräder in Mordfällen auf, deren Spur zu Wichmann führt oder führen könnte.

Wichmann fasst als 16-Jähriger, im Jahr 1965, einer Radfahrerin an den Busen und grinst hämisch. Die Frau ist mit ihrem Kind im Wald unterwegs und wirft einen Stein nach Wichmann.

Zu diesem Vorfall hat Wichmann, der sich in Untersuchungshaft 1993 das Leben genommen hat, in einem geheimen Zimmer in seinem Haus Material gesammelt.

Verdächtiger sammelt Zeitungsausschnitte über einen Mord

Auch Zeitungsausschnitte über einen Mord aus dem Jahr 1968 sind von Wichmann fein säuberlich auf acht DIN-A4-Blätter geklebt worden. Den Tatort, einen Waldweg vier Kilometer vom Haus der Wichmanns entfernt, hat der damals 20-Jährige markiert. Dort nahe Lüneburg ist am Gründonnerstag die 38-jährige Ilse Gerkens mit einem Kleinkalibergewehr von ihrem Fahrrad geschossen worden. Sie ist nach Ostereinkäufen auf dem Weg nach Hause. Bei den Ermittlungen findet die Polizei offenbar Hinweise auf Wichmann. Auch dieser Fall ist bis heute ungeklärt.

Wie der Tod der 14 Jahre alten Schülerin Ulrike Burmester. Ein Jahr nach dem Mord an Ilse Gerkens, am 14. Mai 1969, radelt das Mädchen aus dem Lüneburger Vorort Adendorf, in dem Wichmann lebt, zur Nachhilfe. Neun Tage später wird Ulrikes Leiche an der Elbe bei Drage gefunden, 30 Kilometer entfernt. Auch hierzu finden sich Artikel in Wichmanns Zimmer.

Privatermittler Reinhard Chedor glaubt, dass Kurt-Werner Wichmann noch weitere Frauen getötet hat.

Privatermittler Reinhard Chedor glaubt, dass Kurt-Werner Wichmann noch weitere Frauen getötet hat. Foto: Döscher

Passt der Fall Uta Flemming ins Raster der „Disco-Morde“?

Muss der Kreis der vermeintlichen Disco- oder Anhalterinnen-Morde sogar größer gezogen werden? So spielt im Fall der 1985 getöteten Uta Flemming aus Osterholz-Scharmbeck ebenfalls ein Fahrrad eine Rolle. Am 3. Juli 1985 verschwindet die damals 17-jährige. Sie ist mit einem Fahrrad zu einer Freundin unterwegs gewesen. Derzeit sucht die Polizei mit einem Foto nach einem Zeugen, der eventuell etwas zu diesem Rad sagen kann. Auch dieser Fall passiert nur unweit der A27.

Kommt Wichmann für alle diese Fälle infrage? 1970 hat er als 21-Jähriger eine Anhalterin vergewaltigt, tritt ein Jahr später eine Haftstrafe an, muss sie aber nicht komplett verbüßen, kommt am 3. März 1975 frei.

Wichmann ist 1977, zu der Zeit des Vorfalls in Wehden und des Verschwindens von Anja Beggers, offiziell aber nicht in Norddeutschland. Von 1975 bis 1981 ist er in Linkenheim-Hochstetten, einer Gemeinde im Landkreis Karlsruhe gemeldet. Bei einer Zahnarztwitwe. Er hat auf eine Kontaktanzeige geantwortet. Chedor: „Wichmann fährt aber immer wieder für einige Tage von der Witwe weg, angeblich, um seine Familie in Lüneburg zu besuchen.“

„Du bist nicht die Erste, die ich umbringe“

Einer 16-Jährigen, die Wichmann 1982 im Raum Karlsruhe zum Oralverkehr zwingt, sie sechs Stunden festhält und dann freilässt, sagt er: „Ich habe schon schlimme Sachen gemacht. Du bist nicht die Erste, die ich umbringe.“

Die Todesspur entlang der A27.

Die Todesspur entlang der A27. Foto: NZ

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