TVerkehrte Welt: Warum Nordkehdingens Leerstand auf einmal nützlich wurde
Nordkehdingens Samtgemeindebürgermeisterin Erika Hatecke. 2015 lagen die Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten in ihren Händen. Foto: Helfferich
Als die Flüchtlingswelle 2015 viele Menschen nach Nordkehdingen spülte, erleichterten leer stehende Wohnungen die Aufnahme der Ausländer. Aber es gab auch Probleme.
Nordkehdingen. Als Erika Hatecke 1992 vom Landkreis ins Nordkehdinger Rathaus wechselte, lebten in der Samtgemeinde bereits Familien aus Sri Lanka, die wegen des Konfliktes zwischen der singhalesischen Mehrheit und der tamilischen Minderheit geflohen waren.
„Die Kinder dieser Familien sind heute alle super integriert, sie engagieren sich in den Vereinen und haben alle einen guten Job“, erzählt die heutige Samtgemeindebürgermeisterin. „Die sind mir alle richtig ans Herz gewachsen.“
Hatecke war damals stellvertretende Samtgemeindedirektorin und Leiterin des Ordnungsamtes. Damit lagen die Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten in ihren Händen. Eine ähnliche Erfahrung wie mit den Tamilen hatte sie auch mit den Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien gemacht, die vor dem Bürgerkrieg in den 1990ern nach Deutschland geflohen waren.
Eine Container-Lösung blieb den Menschen erspart
Während die Familien sich schnell einfügten, die Kinder Schulen besuchten und Freunde gewannen, sei es mit alleinstehenden Männern eher schwierig gewesen. So lebten in einem Gebäude zwischen Freiburg und Hamelwörden, direkt an der Landesstraße 11, fünf bis sechs Männer verschiedener Nationalitäten zusammen - ohne Privatsphäre, ohne eigene Küche oder getrennte Sanitäranlagen.
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„Das konnte nicht gutgehen, da gab es immer wieder Probleme“, erinnert sich die Verwaltungschefin. Daher sei die Samtgemeinde dazu übergegangen, möglichst Wohnungen für Familien zu suchen.
Die gelungene Integration im Familienverbund war beispielhaft für spätere Herausforderungen. Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ am 31. August 2015 setzte große Massen in Bewegung - auch nach Nordkehdingen.
Hatecke musste Vermieter überzeugen
„Jede Woche bekamen wir mindestens zwei Familien“, erinnert sich Hatecke, „und ich versuchte jeden Tag, leerstehende Wohnungen anzumieten und Vermieter davon zu überzeugen, dass sie Familien aufnehmen und nicht an Einzelpersonen vermieten.“
Sobald sie wieder über Wohnraum für eine Familie verfügte, meldete sie das der zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber, auch wenn Nordkehdingens Quote erfüllt war. So kam die Samtgemeinde nie in Zugzwang, sondern war immer einen Schritt voraus.
Natürlich funktionierte das nur, weil in Nordkehdingen ausreichend Wohnraum zur Verfügung stand. Der über Jahre beklagte Leerstand wurde quasi zum Joker. „Andere Gemeinden mussten Wohnraum mittels Containern schaffen“, so Hatecke. Das wollte sie für Nordkehdingen vermeiden.
Paten-Familien halfen bei der Integration
„Familien lassen sich einfach besser integrieren als alleinstehende Männer“, sagt Hatecke. Die Vermieter seien Familien und Kindern gegenüber viel aufgeschlossener. Aus dem Mietverhältnis seien Freundschaften geworden, die bis heute hielten, erzählt Hatecke.
Überhaupt sei die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung enorm gewesen. Ganz früh hätten Ehrenamtliche Sprachkurse angeboten, die anfänglich nicht gefördert wurden. Für jede Familie habe es ein Paten-Ehepaar oder eine Paten-Familie gegeben. Ältere Feuerwehrmänner, die nicht mehr aktiv im Dienst waren, seien mit dem Einsatzleitwagen nach Stade gefahren, um Geflüchtete abzuholen. In Oederquart wurden damals Fahrradwerkstatt, Kleiderkammer und Möbellager eingerichtet - alle ehrenamtlich geführt.
Anwohner wehren sich gegen Geflüchtete
Es habe aber auch Kritiker gegeben. Anwohner einer Straße wehrten sich gegen den Zuzug von Geflüchteten in ihrer Nachbarschaft. Eine Bürgerversammlung musste die Wogen zu glätten. Umgekehrt habe es vereinzelt enttäuschte Helfer gegeben, die sich ausgenutzt fühlten. Es habe einen privat organisierten Fahrdienst gegeben. Doch damit sollten Arztbesuche ermöglicht werden und nicht der tägliche Einkauf. Da mussten die Ehrenamtlichen lernen, Grenzen zu ziehen, und die Geflüchteten, sich selbst zu helfen, so Hatecke.
Zwei Familien sind in Nordkehdingen geblieben
Von den Familien, die seit 2015 nach Nordkehdingen gekommen sind, sind nur zwei geblieben, weiß die Samtgemeindebürgermeisterin. Alle anderen hätten Arbeit andernorts gefunden und seien weggezogen. „Allerdings kommen immer wieder ehemalige Bewohner nach Nordkehdingen und sagen, hier sei ihre schönste Zeit gewesen.“ Im Rückblick sagt Erika Hatecke: „Ich glaube, wir haben das ganz gut gemacht.“

Beim Fest der Kulturen 2023 feierten Einheimische und Zugewanderte gemeinsam im und vor dem Kornspeicher. Foto: Petersen
Die jüngste vom Land Niedersachsen vorgesehene Aufnahmequote betrug für den Landkreis Stade 691 aufzunehmende Personen im Zeitraum Oktober 2024 bis März 2025. Die Nordkehdinger Quote der aufzunehmenden Personen habe bei elf Personen gelegen. Tatsächlich sind 23 Geflüchtete untergebracht. Aktuell leben 75 Ukrainer in Nordkehdingen, 37 Personen sind von der Samtgemeinde untergebracht, alle anderen haben eigenen Wohnraum angemietet. Darüber hinaus sind noch 62 Personen mit anderer Nationalität durch die Verwaltung mit Wohnraum versorgt.
TAGEBLATT-Serie
„Wir schaffen das“: Der Satz von Angela Merkel vom 31. August 2015 ist in Deutschland zum Synonym der großen Flüchtlingskrise geworden. Zehn Jahre danach nimmt das TAGEBLATT dies zum Anlass, für eine Serie, die in loser Folge erscheint. In Gesprächen mit Zeitzeugen stellen wir die Frage: Was haben wir heute geschafft? Und was ist noch zu tun?
- Teil 1: „Wir haben es geschafft!“: Geflüchtete aus Buxtehude im Gespräch mit Angela Merkel
- Teil 2: Früher Analphabet, heute Gärtner mit Abschluss in Stade: Er hat es geschafft
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