TWie ein einst florierender kleiner Hafen in Nordenham zum Lost Place wurde

Ein Binnenschiff wendet im Hafenbecken. Dieses Bild dürfte den Autos nach zu urteilen aus den 60er- oder 70er-Jahren stammen. Foto: Archiv Rüstringer Heimatbund
Der Großensieler Hafen in Nordenham hat schillernde Zeiten gesehen. Frachtsegler und Dampfschiffe legten dort an, rauschende Feste wurden gefeiert. Nichts davon ist geblieben. Der Niedergang des kleinen Hafens erfolgte auf Raten.
Nordenham. Im Juli 1962 weiß Franz Sander kaum noch, wo ihm der Kopf steht. Einen Güterumschlag von 20.000 Tonnen in nur einem Monat - das hat der Hafenmeister von Großensiel noch nie erlebt.
Baustoffe, Steine, Holz, Kohle und Getreide: Seit dem Kriegsende steigt die Umschlagsmenge im Großensieler Hafen kontinuierlich an, von zunächst bescheidenen 5000 auf inzwischen 100.000 Tonnen im Jahr. Doch der Juli 1962 markiert einen Rekord. Und Hafenmeister Sander ist im Stress.
In alte Erinnerungen mischt sich ein Stück Wehmut
Der Großensieler Hafen ist ein geschichtsträchtiger Flecken Erde, und manches Kapitel seiner Historie ist denkbar schillernd. Wer in Nordenhams Stadtsüden groß geworden ist oder wie der Großensiel-Chronist Jens Wohlkopf als Zugereister sein Herz an den Ortsteil verloren hat, verbindet mit dem Hafen seine ganz eigenen Erinnerungen.

Ein Frachtsegler liegt an der Hafenkante. Im Hintergrund ist die Mühle mit ihrem markanten Schornstein zu sehen, die es einst im Großensieler Hafen gab und die maßgeblich zum Aufschwung beitrug. Foto: Archiv Rüstringer Heimatbund
Doch was für Erinnerungen das auch immer sind, sie kommen nicht ohne Wehmut aus. Wehmut über den Niedergang des Hafens, der sich von einem florierenden Umschlagsplatz zu einem Lost Place entwickelt hat.
Im Jahr 1759 wird der Großensieler Hafen gegründet. Er entwickelt sich schnell zu einem wichtigen Vorhafen für Brake und Vegesack. Schiffe, die wegen ihres Tiefgangs nicht weiter die Weser hinauf fahren können, löschen hier ihre Ladung. Dielenschiffe mit braungeteerten Segeln liefern Torf als billiges Brennmaterial an.

Stührenbergs Gasthof war um die Wende vom 19. auf der 20. Jahrhundert das gesellschaftliche Epizentrum des Hafens. Dort fanden rauschende Feste statt, und ein üppig angelegter Garten lud zum Lustwandeln ein, wie diese Postkarte aus dem Jahr 1902 zeigt. Foto: Archiv Rüstringer Heimatbund
Neu errichtete Anlegebrücke
Knapp hundert Jahre später sind es längst nicht mehr nur Frachtsegler, die das Bild im Großensieler Hafen bestimmen. Die Weser-Hunte-Dampfschiffahrtsgesellschaft nutzt ab dem Sommer 1846 eine neu errichtete Anlegebrücke.
Täglich, auch im Winter, wenn die Weser und die Hunte nicht gerade von Eis bedeckt sind, legen hier Passagierschiffe mit Kurs Bremerhaven, Bremen und Oldenburg ab. „Nun konnte man in 14-stündiger Reisezeit bei drei Stunden Aufenthalt nach Bremen hin und zurück fahren“, notiert Jens Wohlkopf in seiner Großensiel-Chronik. „Die Fahrt nach Brake und zurück dauerte fünf Stunden, nach Bremerhaven und zurück vier Stunden.“

Diese Luftaufnahme zeigt den Großensieler Hafen in der Zeit, als dort noch Binnenschiffe festmachten und Baustoffe und Kohle umgeschlagen wurden. Foto: Archiv Rüstringer Heimatbund
Britische Dampfschiffe legen regelmäßig mit Kurs London und Hull ab
Der Kaufmann und Reederei-Agent Wilhelm Müller, der als Gründer der Stadt Nordenham gilt, erschließt 1851 einen neuen Markt für Großensiel: England. Fortan laufen regelmäßig britische „Steamer“ von Großensiel nach London und Hull aus.
An Bord haben sie Vieh, vornehmlich Rinder. Bei der Verladung sind, wie Jens Wohlkopf schreibt, der Hafen und der Anleger erfüllt von dem Lärm, den die Tiere machen, bevor sie ihre unfreiwillige Reise nach Großbritannien antreten.

Das Haus Weserstrand heute. Das Gebäude steht leer, der Garten ist verwildert, Sträucher wachsen mannshoch. An die goldenen Zeiten des Lokals erinnert hier nichts mehr. Foto: Glückselig
Rauschende Feste in Stührenbergs Gaststätte
Die Geschichte des Großensieler Hafens ist auch die Geschichte seiner Lokale, insbesondere von Stührenbergs Gaststätte. Ende des 19. Jahrhunderts ist sie das gesellschaftliche Epizentrum des Hafens.
Im Sommer finden rauschende Feste und Gartenkonzerte statt, die Besucher von nah und fern anlocken. Abends wird im Garten des Gasthauses häufig ein Feuerwerk abgebrannt.

Dieser Laufkran war das letzte Zeugnis aus der Zeit, als im Großensieler Hafen noch Umschlag stattfand. Er wurde 2019 demontiert. Foto: Glückselig
1884 lädt mittels einer Zeitungsanzeige der Heimatverein Club Weserstrand, dessen Vereinslokal Stührenbergs Gaststätte ist, zu einem großen Konzert ein. Anschließend soll ein „Herrenball“ stattfinden. Dienstboten sind nicht zugelassen, und der Eintritt kostet 80 Pfennig.
Kleines Sanssouci mit Seerosen-Teich und Buchsbaumnischen
1916 kauft der ehemalige Kapitän Bernhard Hermann Hashagen das Anwesen. Er verwandelt den Garten in ein kleines Sanssouci. Es gibt einen Teich, in dem Seerosen schwimmen und über den eine ausladende Brücke führt. Tische und Stühle stehen in Buchsbaumnischen.

Der Großensieler Hafen ist noch immer ein Ort, an dem man die Seele baumeln lassen kann. Doch die glorreichen Zeiten sind vorbei. Foto: Glückselig
Und wenn sie nicht ausreichen, werden grob gezimmerte Bänke dazugestellt. Für Gartenkonzerte ist meistens ein Militär-Musikkorps zu Gast, vorzugsweise vom Oldenburger Dragonerregiment. Groß gefeiert werden die Pfingstfeste. Dann tragen die jungen Herren einen neuen Anzug und die Mädchen Kleider mit weißen Schärpen.