TGrünendeich: Skelett einer jungen Frau in der Seefahrtschule entdeckt

Auf dem Dachboden der Alten Seefahrtschule entdeckt: Dr. Sebastian Ipach bettet das Skelett einer jungen Frau aus dem 19. Jahrhundert im Ausstellungsraum des Hauses der Maritimen Landschaft in einen Karton. Foto: Vasel
In der Alten Seefahrtschule hat der Archäologe Dr. Sebastian Ipach das Skelett einer jungen Frau entdeckt. Handelt es sich um einen Kriminalfall?
Grünendeich. Auf dem Dachboden der Alten Seefahrtschule in Grünendeich fiel Dr. Sebastian Ipach ein unscheinbarer Karton ins Auge. Als der Leiter der Maritimen Landschaft Unterelbe diesen öffnete, stockte ihm der Atem. Vor ihm lag ein menschliches Skelett. Als Archäologe hatte Ipach unzählige Knochen bei seinen Ausgrabungen in Deutschland und Griechenland freigelegt. Doch in der 1858 errichteten Schule hatte er keine vermutet.

Blick auf den Dachboden der Alten Seefahrtschule von 1856/1858. Foto: Vasel
Offenbar diente das präparierte und beschriftete Skelett dem Anatomieunterricht der Steuerleute und der Kapitäne. Im Notfall sollten sie bei ihren Reisen über die Weltmeere ihrer Crew beistehen können. Doch das war zu Beginn seiner Recherche lediglich eine Vermutung. „Wer war dieser Mensch?“ Dem wollte Ipach auf den Grund gehen.
Im Becken entdeckte er die Inschrift „W. Dietze Strassburg“. Sein erster Gedanke: Halte ich womöglich ein Skelett aus der Nazi- oder aus der Kolonialzeit in den Händen? Beim Ortsnamen erinnerte er sich an ein Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft. 86 Jüdinnen und Juden waren 1943 von Auschwitz in das Konzentrationslager Natzweiler in der Nähe von Straßburg verschleppt und ermordet worden.

Der Anatomiediener Wilhelm Dietze aus Straßburg präparierte das Skelett der jungen Frau zwischen 1880 und 1912. Foto: Vasel
Ihre sterblichen Überreste landeten in der Medizinischen Fakultät und wurden im Anatomischen Institut konserviert - für höchst zweifelhafte pseudo-medizinische Menschenversuche und rasseanthropologische Studien von Nazi-Medizinern und der SS-Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe.
Nach der Befreiung Straßburgs durch die US-Army im November 1944 wurden die Skelette beigesetzt. In vielen Universitäten lagerten die im Zuge der menschenverachtenden „Rassenhygiene“- und Gesundheitsideologie der Nazis angefertigten Präparate aus KZs und Pflege- und Heilanstalten bis in die jüngste Vergangenheit.
Wilhelm Dietze präparierte das Skelett vor 1912
Doch das konnte Ipach schließlich ausschließen. Seine Recherchen ergaben: Es handelte sich bei W. Dietze um einen Institutsdiener der damaligen Kaiser-Wilhelm-Universität in Straßburg. Elsaß-Lothringen war von 1871 bis 1918/1919 ein Teil des Deutschen Reiches. Dietzes Name findet sich 1890 bis 1913 in den Akten. Er zog die forensische Anthropologin Dr. Eilin Jopp-van Well im Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Eppendorf und Dr. Christine Lehn vom Institut für Rechtsmedizin der Universität München zu Rate.
Die Expertinnen untersuchten die Knochen auch mit Hightech-Methoden der Kriminaltechnik und Archäologie. Ergebnis: Es handelt sich um das Skelett einer jungen Frau, sie war 25 bis 29 Jahre alt geworden und litt an Karies und Parodontose. Das hatte Knochenschwund zur Folge.
Die Frau lebte in Mitteleuropa. Eine chronische Anämie an den Augenhöhlen deute auf Blutarmut hin. „Das ist ein Anzeichen für schlechte Ernährung“, erklärt Ipach. Das Präparat ist in einem „erstaunlich guten Zustand“. Das zeuge von der Qualität der Arbeit des Präparators Wilhelm Dietze.
Handbetriebenes Gerät für die Schädelöffnung
Hinweise auf die Todesursache gab es nicht. Die Frau war nicht mehr bestattet, sondern gleich als Lehrmittel präpariert worden. Bei der Obduktion war ein handbetriebenes Gerät für die Schädelöffnung eingesetzt worden. Das untermauerte die These, dass das „Individuum zwischen 1880 und 1912 in Straßburg angefertigt worden sein muss“. Nach Abschluss der von der Sparkasse unterstützten Untersuchung sollen die Überreste würdig beigesetzt werden.

Dachbodenfund: Dr. Sebastian Ipach hält den alten Fahnenmast der Seefahrtschule in seinen Händen. Foto: Vasel
Ipach hat auf dem Dachboden auch den Flaggenmast von 1858 entdeckt. Dieser war ein Geschenk des Reeders Johan Pickenpack - seine Schiffe brachten Obst nach England - an die 1845 in Cranz von dem Steuermann Peter Porath gegründete Navigationsschule. 1858 bezog die Königliche Navigationsschule den heutigen Altbau. 1958 und 1978 wurde das neogotische Backsteingebäude um Schulräume, Kapitänsbrücke, Manöverbecken und Planetarium erweitert. Die Nachfrage sank, am 28. Februar 2002 war Schluss. Die Bilanz: knapp 5500 ausgebildete Seeleute. Und auch das Skelett wanderte in die Kiste.

Blick auf das Haus der Maritimen Landschaft. Foto: Vasel
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