TNihat Sagir: Die Geschichte eines Türken, der im Alten Land eine neue Heimat fand

In seinem Garten ist Nihat Sagir im Sommer häufig anzutreffen. Foto: Buchmann
Er engagiert sich in der Politik, im Sport und ist im Alten Land weithin bekannt: Nihat Sagir. Wer ist dieser Mann, der als Kind Tausende Kilometer von seiner Familie entfernt lebte?
Neuenkirchen. Als Nihat Sagir die abgewetzte Holzbank mit den Kräutertöpfchen über seinen Rasen schleift, bleibt das nicht lange unbemerkt. „Na, stehen schon wieder Wahlen an?“, ruft plötzlich eine Frauenstimme über den Zaun, gefolgt von einem kurzen Lachen. „Nein, nein“, wirft Sagir zurück.
Der Wortwechsel ist knapp, aber herzlich. Vermutlich treffen sich die Nachbarn öfter mal zum Klönschnack am Gartenzaun und lachen gemeinsam über den Pfingstsonntag vor 16 Jahren, an dem der frisch eingezogene Familienvater Rasen mähte.
Ich habe das Gefühl, dass ich dem Alten Land etwas zurückgeben muss.
Nihat Sagir (46), Lokalpolitiker und Fußballtrainer
Im Alten Land ist Nihat Sagir kein Unbekannter. Der gelernte Bankkaufmann arbeitet als Controller bei der Sparkasse Stade-Altes Land und lebt seit 2008 mit seiner Frau Hatice und den drei Kindern Liya (9), Mina (11) und Orkan (16) in einer Doppelhaushälfte in Neuenkirchen.
Seit acht Jahren sitzt das SPD-Mitglied im Neuenkirchener Gemeinderat, zudem seit drei Jahren im Samtgemeinderat Lühe. Als Fußballbegeisterter spielte er lange Zeit für die SG Lühe, machte seine B-Trainerlizenz und trainierte seitdem unter anderem Herrenmannschaften, derzeit den TVV Neu Wulmstorf.
Wie bekommt man Ehrenamt und Familie unter einen Hut?
Ein prall gefüllter Terminkalender bestimmt Sagirs Alltag. Ihn mal spontan für ein Telefonat zu erreichen sei schwierig, gesteht er. Aber wieso mutet sich der Familienvater solch eine Belastung zu?
„Ich habe das Gefühl, dass ich dem Alten Land etwas zurückgeben muss“, betont Nihat Sagir im Gespräch immer wieder. Denn seine Heimat war bis zu seinem elften Lebensjahr die türkische Provinz Trabzon am Schwarzen Meer.
Dort wuchs Sagir in einfachen Verhältnissen auf dem Land auf. Er erinnert sich noch an die vor Aufregung schlaflosen Nächte, wenn seine Eltern einen Ausflug in die Großstadt ankündigten. Doch mit fünf Jahren änderte sich sein Leben radikal.

Nihat Sagir (links) als fußballbegeisterter Junge in den 90er Jahren. Foto: privat
„Mein Vater ging Anfang der 80er Jahre nach Steinkirchen und arbeitete als Erntehelfer“, sagt Nihat Sagir. Sechs Jahre lang bekam er seinen Vater nicht zu sehen, der Kontakt beschränkte sich auf unregelmäßige Telefonate.
Als Nihat zehn Jahre alt war, folgte seine Mutter dem Vater nach Deutschland - Nihat blieb mit seiner Schwester bei Onkel und Oma zurück. Erst ein knappes Jahr später war die Familie Sagir in Steinkirchen wieder vereint.
Als Elfjähriger ohne ein Wort Deutsch im Alten Land
Die Reise nach Deutschland war ein Lichtblick für Nihat Sagir. „Mir war egal, wo ich hinreisen musste“, sagt er. Im Alten Land war alles neu für den damals Elfjährigen: Die Menschen, die Sprache - und das Wetter. „Die Kälte mag ich bis heute nicht“, sagt Nihat Sagir und lacht. Er liebt warme Sommer, um im Garten zu arbeiten oder mit Freunden zu grillen.

Als Trainer hat Nihat Sagir (rechts) in den letzten Jahren viel Erfahrung gesammelt. Foto: Schmietow (FuPa)
An seine Kindheit erinnert sich Sagir nur bruchweise. Etwa an ein Mädchen auf einem Fahrrad, das er häufig beobachtete. „Ich habe dann selbst ein Fahrrad bekommen, so ein altes Teil, aber Fahrrad fahren konnte ich gar nicht“, erinnert er sich. Das Mädchen habe auf ihn eingeredet und ein Wort immer wieder benutzt: Fahrrad. „Ich kannte das Wort nicht und habe meinen Vater abends gefragt, ob das eine Beleidigung ist“, erzählt Nihat Sagir.
Keine große türkische Community im Alten Land
Zur Schule durfte er zunächst nicht gehen. Erst durch den Einsatz eines resoluten Cousins besuchte Nihat Sagir schließlich den Unterricht. Besonders gefreut hatte er sich auf Mathe, Sport und Musik. „Ich konnte ja noch kein Deutsch und in diesen Fächern konnte ich trotzdem mitmachen“, sagt er. Noch heute ist er einer Lehrerin besonders dankbar, die ein halbes Jahr lang nach dem Unterricht mit ihm die deutschen Artikel und Pronomen übte.

Gemeinsam mit seinen beiden Töchtern sprach Nihat Sagir bei den Omas gegen Rechts über Ausgrenzung und Rassismus. Foto: Buchmann
Die Sprache zu lernen, war ihm immens wichtig. „Hier im Alten Land gab es noch nie eine große türkische Community“, sagt Nihat Sagir. Besonders über den Fußball fasste er schnell Fuß in der Region. Bei einem Kinderturnier zur Weltmeisterschaft 1990 traf der fußballbegeisterte Junge auf den damaligen Vorsitzenden der SG Lühe, Rhett Waida.
„Rhett hat sich dafür eingesetzt, dass ich trotz Duldungsstatus im Verein mitspielen durfte“, sagt Nihat Sagir. Und das, obwohl der Wirt des Gasthauses Zur schönen Fernsicht alle Hände voll zu tun hatte. „Das war der Eintritt für mich in eine neue Welt“, sagt Sagir heute.

Freitags haben Nihat Sagirs Töchter die Macht über die Fernbedienung und dürfen entscheiden, was beim Familien-Filmabend geschaut wird. Foto: Buchmann
Mit 21 Jahren war Nihat Sagir auf sich allein gestellt. Seine Eltern und seine Schwester wurden 1999 in die Türkei abgeschoben. Da er keinen Anspruch auf Sozialleistungen hatte, musste er neben seiner Kaufmannslehre noch vier weitere Jobs annehmen - Pizza ausfahren, Zeitungen austragen, putzen und in der Fernsicht kellnern. Einige Altländer hatten dem jungen Mann in dieser schwierigen Zeit finanzielle Hilfe zugesagt - gebraucht hatte er sie nie. Aber allein die Bereitschaft hat ihn nachhaltig beeindruckt.
Im Mai sprach er als Vertreter der SG Lühe bei einer Kundgebung gegen Rechts in Bassenfleth, erzählte von der Integrationschance durch den Sport - auf der Basis seiner eigenen Geschichte. „Ich habe damals immer genommen“, sagt Nihat Sagir. „Und das muss ich zurückgeben.“
Mit der Familie entspannen bei Netflix und Chips
Deshalb muss er immer die Kontrolle über seine Zeitplanung haben. „Ich kann nicht herumsitzen und nichts tun“, sagt Nihat Sagir. Manchmal erwischt er sich dabei, dass er vom Küchentisch aufspringt und Unkraut im Garten zupft. Doch seine Zeit will er vor allem mit Dingen verbringen, die ihm Spaß bereiten. „Vielleicht muss ich mich mal therapieren lassen“, sagt Nihat Sagir und schmunzelt.
Richtig entspannen kann er nur mit seiner Familie. „Wir liegen dann freitags zusammen auf dem Sofa, essen Chips und schauen einen Film auf Netflix“, sagt der dreifache Vater. Hier gibt er dann das Heft bereitwillig aus der Hand: Seine Kinder entscheiden nämlich, welcher Film dann läuft.