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Handwerk

TBis in die USA: Diese Altländer Tradition ist ein Exportschlager

Ein Tischler  drechselt ein Stuhlbein.

Tischler Leo von der Tischlerei Augustin aus Bliedersdorf drechselt ein Stuhlbein, das auf einer Drechselbank eingespannt ist. Foto: Meyer

Seit fünf Jahrhunderten werden Altländer Stühle zur Hochzeit oder Taufe verschenkt. Eine Tischlerei aus Bliedersdorf baut sie noch. Einige erzählen besondere Geschichten.

Von Redaktion Samstag, 06.09.2025, 15:50 Uhr

Bliedersdorf. Die Altländer Hochzeits- und Taufstühle sind ein Brauch, der in zweierlei Hinsicht mit Herzblut gepflegt wird: Freunde und Familie von Brautpaaren oder Taufkindern verschenken die antiken Möbel - heute wie im 16. Jahrhundert. Die Pfostenstühle mit gedrechseltem Gestell sind besonders im Raum Niederelbe und an der schleswig-holsteinischen Küste verbreitet.

Jeder Stuhl ist ein Unikat und erzählt etwas Einzigartiges über seinen Besitzer. Am Herzen liegt dieses Handwerk auch Hans-Heinrich Augustin (71), seiner Frau Helga (65) und Sohn Daniel (32). Die Tischlerei aus Bliedersdorf ist eine der letzten, die die Altländer Stühle fertigt.

So entstehen Altländer Stühle

Es beginnt mit dem Zuschneiden des Holzes. Die Augustins arbeiten mit Eichenholz. Das ist nicht so teuer wie Kirsche oder Esche und lässt sich besser drechseln. Danach wird die Oberfläche der einzelnen Holzelemente gedrechselt. Während ein Stuhlbein auf einer Drechselbank rotiert, meißelt der Drechsel das Holz in die gewünschte Form. Im nächsten Schritt wird das Kopfstück, die Rückenlehne, geschnitzt. Dieser Schritt sei am aufwendigsten, sagt Daniel Augustin.

Schwarz-Weiß-Zeichnung von Buxtehude als Motiv für einen Stuhl.

Hase und Igel, die St.-Petri-Kirche: Ein Kunde wünschte sich die Stadt Buxtehude auf einem Stuhl. Foto: Meyer

Die Lehne ist das Herzstück. Kunden wünschen sich Motive aller Art, die sie selbst oder ein Maler entwerfen. Die Menschen wollen ihr Leben, Beruf und Hobbys verewigen. Hans-Heinrich Augustin, der die Tischlerei in zweiter Generation führt, sagt: „Wir müssen etwas aus den Vorstellungen der Menschen machen, von denen sie nachher begeistert sind.“ Manchmal müssten die Leute „ein bisschen abspecken“, wenn Bilder zu kompliziert und nicht umsetzbar seien.

Danach setzen die Tischler das Kopfstück und den Rest vom Stuhl zusammen und lackieren ihn. Im letzten Schritt gibt der Maler dem Stuhl Farbe - es sei denn, der Kunde wünscht sich einen naturbelassenen. Helga Augustin sah schon einige farblose bei Leuten in der Küche und stellte fest: „Manche Stühle wirken in Natur nicht.“

Schwarz-Weiß-Zeichnung von Hänsel und Gretel sowie der Hexe als Motiv für einen Stuhl.

Hänsel und Gretel fanden nicht nur in Märchenbüchern Platz, auch auf einem Altländer Stuhl. Foto: Meyer

Von der Bestellung bis zur Auslieferung dauere es sechs bis acht Wochen, so Helga Augustin. Zwischendurch brauche der Stuhl Zeit, um in Ruhe zu trocknen, da er vorher feucht eingearbeitet wurde. Schritte wie das Drechseln erfordern die Fertigkeiten speziell dafür ausgebildeter Handwerker, die selten sind. Fällt ein Drechsler aus, müsse der Beschenkte warten, sagt Sohn Daniel.

Ein Hochzeitsstuhl-Erlebnis in Berlin zum Schmunzeln

Auf einen Hochzeits- oder Taufstuhl gehört der Tradition nach ein „Paradekissen“ mit „Bömmelchen“, wie Hans-Heinrich Augustin weiß. Heute ersetzt oft ein Geflecht aus Binsen das Holz als Sitzfläche, ein Kissen zur Zierde wird seltener.

Hans-Heinrich Augustin und seine Frau Helga mit ihrem Hochzeitsstuhl vor der Tischlerei in Bliedersdorf.

Hans-Heinrich Augustin und seine Frau Helga mit ihrem Stuhl, der die Bliedersdorfer Kirche zeigt. Foto: Meyer

Wenn Motive zu kleinteilig seien, „wenn Fasern gegeneinander laufen und der Schnitzer das Stecheisen ansetzt“, können Stücke auf der Rückenlehne schnell wegplatzen, so Helga Augustin. Bricht ein Stück weg, wird nachgeleimt. „Ein Arzt kann das nicht. Was weg ist, ist weg. Wir können leimen“, sagt Helga Augustin.

„Zuletzt haben wir zwei Hochzeitsstühle persönlich nach Berlin geliefert“, sagt Hans-Heinrich Augustin. Die Mutter der Braut stammt aus der Nähe des Alten Landes und beschenkte Tochter und Schwiegersohn. Da dieser Elektrotechnik studierte und privat als DJ auflegt, lag das Motiv für die Mutter nahe: Ein Kopfhörer und Mikrofon standen symbolisch für das Hobby. Für den Beruf überlegte sich die Schwiegermutter ein ausgefallenes Bild, das Zeus als Gott der Blitze zeigte.

Als die Braut ihren Stuhl sah, habe sie sofort alles „gecheckt“, beschreibt Hans-Heinrich Augustin. „Der Bräutigam stand vor dem Stuhl: Der hat das nicht begriffen“, erinnert sich Helga Augustin. Beim Ja-Wort saß das Brautpaar auf dem Stück Alten Land.

Schwarz-Weiß-Zeichnung eines Löwen als Motiv für einen Stuhl.

Detailreiche Motive wie ein Löwe und sein Gesicht sind für den Schnitzer nicht leicht. Foto: Meyer

Ältere Dame bestellt 14 Stühle

Weiße Kinderstühle mit einem goldenen Eichhörnchen haben auch die USA schon erreicht, wo eine deutsche Familie lebt. In England steht eines der aufwendigsten Motive der Tischlereigeschichte. Darauf zu sehen ist Detailreichtum mit Notenständer oder einer Kirchenorgel.

Kinderstühle seien ein beliebtes Spielzeug, „bei den Mädchen eher als bei den Jungs“, sagt Helga Augustin, die oft gesehen hat, dass Mädchen ihre Puppen auf den Stuhl stellen. Wenn Kinder das Elternhaus fürs Studium oder die Ausbildung verlassen, bleibe der Stuhl oft „bei Mama und Papa“. Wenn sie danach in eine eigene Wohnung oder ein Haus ziehen, nehmen sie die Stühle wieder mit, weiß die 65-Jährige.

Motiv eines weißen Kinderstuhls mit einem goldenen Eichhörnchen.

Motiv eines Kinderstuhls, der bei einer Familie in den USA steht. Das Eichhörnchen spielt auf den Familiennamen an. Foto: Meyer

Was den Augustins noch im Gedächtnis bleibt: Eine Dame bestellte für jeden ihrer 14 Urenkel einen Stuhl. Zu ihrem 90. Geburtstag setzten sich alle mit den Stühlen in den Festsaal.

Mehr als 1000 Euro ist Kunden ein großer Hochzeitsstuhl wert - naturbelassen, ohne Farbe. Eine genaue Zahl, wie viele Stühle sie schon verkauft haben, nennen die Augustins nicht. „Genügend“, sagt der Senior. Manche Jahre seien es mehr, manche Jahre weniger Stühle. Sohn Daniel will, dass die Tradition im Betrieb weiterlebt.

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