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Interview

T175 Jahre VfL Stade - aber niemand feiert: Warum, Herr Brokelmann?

Carsten Brokelmann agiert seit 20 Jahren als Präsident des VfL Stade.

Carsten Brokelmann agiert seit 20 Jahren als Präsident des VfL Stade. Foto: Berlin

Carsten Brokelmann ist seit seiner Geburt im VfL Stade. Im Interview erzählt der Präsident, wie man den Riesenverein zusammenhält und warum es keine Jubiläumsfeier gibt.

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Von Tim Scholz,
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Von Daniel Berlin
Sonntag, 14.12.2025, 00:12 Uhr

Stade. Im April 1965, am Tag seiner Geburt, trat Carsten Brokelmann in den VfL Stade ein - zumindest steht das so auf dem Formular. Allerdings dauerte es noch zwei Jahre, bis der Verein ihn offiziell akzeptierte. „Das Sportangebot durfte man erst ab zwei Jahren wahrnehmen“, erzählt Brokelmann schmunzelnd. Und doch: Auf dem Formular stehe nachweislich 1965.

Carsten Brokelmann bestaunt gemeinsam mit seinen Eltern bei der Sportschau des VfL Stade 1967 den Wanderpokal seines Vaters. Brokelmann machte damals Sport in der Kinderturngruppe.

Carsten Brokelmann bestaunt gemeinsam mit seinen Eltern bei der Sportschau des VfL Stade 1967 den Wanderpokal seines Vaters. Brokelmann machte damals Sport in der Kinderturngruppe. Foto: Ernst Bewersdorff

Fotos aus dieser Zeit zeigen seine ersten Gehversuche im Verein - zusammen mit seinem Vater bei einer Sportschau in der Realschule Camper Höhe, in Frotteehose und Unterhemd mit VfL-Logo. Brokelmann betätigte sich in der Leichtathletik, beim Basketball, kurzzeitig auch beim Handball und Tischtennis.

Seit 20 Jahren steht er nun an der Spitze des Vereins. 10 bis 15 Stunden pro Woche ist Brokelmann für den VfL unterwegs. Seit 2022 ist der Politiker der Wählergemeinschaft (WG) Stader Stadtrat.

Greift der Präsident demnächst zum Schwert?

TAGEBLATT: Der VfL Stade hat 5600 Mitglieder und 22 Abteilungen - von Akrobatik über Judo bis Zirkus. Gibt es eine Sportart, die Sie gerne mal ausprobieren würden?

Brokelmann: Ich würde gerne mal wieder Basketball spielen, wenn meine Knie das zulassen würden. Ansonsten finde ich Taekwondo und Schwertkampf ganz spannend.

Wie hält man so einen Riesenverein zusammen?

Man muss sich damit abfinden, dass es nicht der Verein VfL Stade mit 22 Abteilungen ist, sondern ein Dach für 22 kleine Vereine. Ein Großteil des Vereinslebens findet in der jeweiligen Sportart statt. Deshalb braucht man Formate, die eine Brücke zwischen den Abteilungen schaffen: Jugendfahrten, Kinderolympiade oder Ehrenamtsgrillen.

War das schon immer so?

In den Sechzigern gab es faktisch nur Fußball, Leichtathletik und Feldhandball - das fand alles auf der Horst statt. Und immer kamen dieselben Leute. Es war völlig selbstverständlich, dass ein Leichtathlet auch Fußball oder Handball spielte.

VfL Stade kommt gut durch die Corona-Zeit

Und das Vereinsleben damals?

Früher gab es noch den Kostümball im Tivoli in der Harburger Straße oder riesige Feten im Casino auf der Horst. Viele Freundschaften sind im Verein entstanden, weil man dort viel Zeit verbracht hat. Es war langsamer, entschleunigter - heute ist es hektischer.

Würde dem VfL Stade etwas mehr Ruhe guttun?

Ich denke, das schaffen wir sogar ein Stück weit. Im Vergleich zu anderen großen Vereinen haben wir kein eigenes Fitnessstudio oder eine Tennishalle. Wir setzen bewusst auf sozialen Kontakt über den Sport. Gerade während Corona haben wir gemerkt, wie sehr das den Menschen gefehlt hat. Wir hatten erstaunlich wenige Austritte, obwohl die Menschen nichts von ihrem Mitgliedsbeitrag hatten.

Entwickelt sich der VfL trotzdem immer mehr zum Dienstleister?

Ja, in bestimmten Bereichen. Die Anforderungen an Sport haben sich geändert, genauso wie die Selbstverständlichkeit, mit der früher Sport gemacht wurde. Das sieht man beim Gesundheitssport, der für manche nur eine Dienstleistung ist, oder bei den Schwimmkursen. Da geht es oft darum, wo man am schnellsten einen Platz für sein Kind findet.

Sind private Anbieter wie Fitnessstudios ernstzunehmende Konkurrenten für Sie?

Nein. Das ist eine Frage des Anspruchs. Es gibt Leute, die wollen morgens und abends Sport treiben, denen werden wir es nie recht machen können. Wir konzentrieren uns auf die Menschen, die ein Gemeinschaftsgefühl haben wollen - für die sind wir die Top-Adresse.

So hält der VfL Stade seine Mitglieder

Kommen junge Leute heute mit einem anderen Anspruch?

Ja, sie erwarten eine andere Ansprache. Früher konnte dich ein Trainer anschreien und man hat es akzeptiert. Heute wäre die Halle innerhalb von zwei Wochen leer. Junge Menschen sind selbstständiger, fordern ihr Recht und Partizipation ein, und das strahlt auch auf den Sport aus.

Worauf kommt es dabei an?

Wer zugewandt ist und jungen Menschen das Gefühl gibt, für sie da zu sein, kriegt die Halle voll. Das erleben wir hier bei exotischen Sportarten. Hört die Person auf, stirbt oft auch die Abteilung.

Laut Landessportbund gehört der VfL in Niedersachsen zu den Vereinen mit den meisten Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren - 537 an der Zahl. Was machen Sie richtig?

Wir machen da nichts Besonderes. Aber wir verlieren weniger Jugendliche als andere Vereine. Entscheidend ist, dass jeder bei uns ein Zuhause findet, im Leistungs- oder Breitensport. Wer in seiner Sportart nicht gut genug ist, bleibt trotzdem in einer Freizeitgruppe aktiv, die sich ein- oder zweimal die Woche trifft.

Wie bleibt der Verein für Jüngere attraktiv?

Nach der Grundschule gibt es eine Altersgruppe, die sich gerne bewegt, sich aber nicht auf eine Sportart festlegen will. Für diese Gruppe könnte man ein Angebot aus verschiedenen Ballsportarten schaffen, nicht leistungsorientiert. Denn wir merken auch: Viele wollen keine Verpflichtungen eingehen.

Warum wird man eigentlich Präsident?

Welche Rolle spielt dabei die Ganztagsschule?

Wir sind in Stade Partner im Ganztagsbereich und gehen davon aus, an manchen Tagen bis zu acht Sportangebote gleichzeitig in den Schulen abzudecken. Wenn die Kinder und Jugendlichen dort Spaß am Sport haben, werden sie wahrscheinlich auch am Nachmittag zu uns kommen.

Sie sind vor 20 Jahren mit einem klaren Plan als Präsident angetreten? Was war ihre Motivation?

Wir wollten den Verein modernisieren. Wir wollten die Geschäftsstelle stärken, stärker einige Dinge ins Hauptamt verlagern. Es musste eine Professionalisierung stattfinden. Wir mussten auch auf neue Trends setzen und das Sportangebot verbreitern. Der VfL Stade zählte damals nur noch 3500 Mitglieder. Mit dem Umzug nach Ottenbeck, den Horst Rabe angekurbelt hat, in den 2000ern haben wir die Weichen für eine gute Entwicklung gestellt.

Hat sich der Umzug nach Ottenbeck gelohnt?

Wir haben innerhalb weniger Jahre 1000 Mitglieder dazugewonnen, weil wir eine bessere Infrastruktur hatten. Andere Vereine sind zum Beispiel mit Gymnastikräumen erst viel später nachgezogen. Es ist schön, für diesen Verein Verantwortung zu tragen, mit andere Menschen etwas gemeinsam zu machen.

Erst die Kompetenz, dann die Posten

Gibt es die Enthusiasten heute noch? Wie schwierig ist es, Leute zu finden?

Für das Ehrenamt auf der unteren Stufe ist es heute genauso gut und genauso schlecht möglich, Leute zu finden wie das früher der Fall war. Wenn man aber heute Menschen fragt, ob sie nicht Lust haben, Trainer zu werden, ihnen aber auch gleichzeitig vermittelt, warum man ihnen das zutraut, dann findet man die genauso leicht wie vor 40 Jahren. Einen Zettel hinhängen „Wer will Schiedsrichter werden“ funktionierte damals nicht und funktioniert heute nicht.

Ist der VfL in Sachen Ehrenamt gut aufgestellt?

Ich glaube schon. Natürlich ist das von Abteilung zu Abteilung unterschiedlich, je nachdem, wer die Nachwuchsarbeit betreibt. Schwieriger wird es bei den Führungsebenen und dabei, Leute für den Hauptverein zu begeistern. Damit koppeln sie sich auch aus ihrer Abteilung ab. Da bleiben einige dann lieber beim Tanzen, als in der großen Runde mit am Tisch zu sitzen. Man muss die Leute fragen, wozu sie Lust haben? Dann schaffe ich eben im Beirat einen dritten Posten für den gleichen Bereich, wenn du so viele Leute hast, die für dieses Thema brennen.

Was meinen Sie damit konkret?

Wir haben auch auf Präsidiumsebene keine festen Zuständigkeiten. Wir gucken, was kann jemand. Was wir ehrenamtlich nicht mehr abbilden können, muss ins Hauptamt. Mitgliederverwaltung beispielsweise kann heute niemand mehr ehrenamtlich machen. Aber Finanzen? Ich war Finanzbeamter. Natürlich kann ich eine Steuererklärung erstellen oder den Haushalt aufstellen. Der nächste Präsident kommt vielleicht aus dem Baubereich und kann Gebäude und Plätze managen. In unserem Beirat ist breite Kompetenz: Banker, Rechtsanwälte, Finanzbeamte.

Nicht um jeden Preis das Rathaus vollkriegen

Gibt es manchmal Interessenkonflikte zwischen Ihrem Beruf in der Stadtverwaltung und dem Präsidentenposten beim VfL?

Ich muss mich natürlich manchmal raushalten. An bestimmten Stellen mische ich mich nicht ein.

Wo reden Sie nicht mit?

Zum Beispiel bei der Camper Höhe. Was passiert mit dem Casino? Wie werden die Verträge ausgestaltet? Wenn es um Zuschüsse für den VfL Stade geht, dann machen das andere. Unterm Strich ist es weniger, als ich befürchtet habe. Ich hatte überlegt, ob ich als Präsident zurücktreten muss. Ich würde auch sofort zurücktreten, wenn ich das Gefühl hätte, es würde dem Verein schaden. Wenn der Eindruck entsteht, der Verein profitiert nur, weil ich bei der Stadt im Verwaltungsvorstand bin. Aber es ist auch mir völlig klar, dass der Grandplatz in Bützfleth eher ausgetauscht werden müsste, als bei uns der nächste Kunstrasenteppich.

Warum feiert der Verein eigentlich das 175. Jubiläum nicht?

Wir haben überlegt, eine Gala zu veranstalten. Dann müssten wir alle 22 Abteilungen mit ihren unzähligen Angeboten darstellen. Da ist es schon schwierig, einen Termin zu finden. Auch die Identifikation ist nicht so groß. Vieles spielt sich doch in den Abteilungen ab.

Carsten Brokelmann: „Ich würde auch sofort zurücktreten, wenn ich das Gefühl hätte, es würde dem Verein schaden.“

Carsten Brokelmann: „Ich würde auch sofort zurücktreten, wenn ich das Gefühl hätte, es würde dem Verein schaden.“ Foto: Berlin

Nach Außen hat der VfL auch nichts gemacht. Warum?

Wir haben eine Imagebroschüre erstellt. Bilder in Abteilungen. So machen wir das Angebot der Abteilungen sichtbar. Das ist auch nachhaltiger, als ein Mal mit Kraft das Rathaus für eine Gala vollzukriegen.

Wenn Sie sich etwas für den 200. Geburtstag wünschen dürften, was wäre das?

Dass wir immer noch der Verein sind, der allen Menschen, die in Stade Sport treiben wollen, eine Heimat bietet.

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