TCold Cases: Darum werden sechs vermisste Frauen bei der Polizei als Mordopfer geführt

Alte Akten, ungeklärte Kapitalverbrechen: An einem Hängeregister befindet sich der Schriftzug Cold Case. Foto: IMAGO/Sascha Steinach
„Cold Cases“ sagt man heute - ungelöste Kriminalfälle, die meist Jahre zurückliegen. Zwölf solcher Verbrechen hat die Cuxhavener Kriminalpolizei untersucht. Über Ermittler, Zeugen und die Bedeutung von Beweisen.
Cuxhaven. +ferVermisst. Zwischen 1977 und 1986 verschwinden im „nassen Dreieck“ zwischen Weser und Elbe sechs junge Frauen. Als „Mordsache“ werden die Fälle bei der Kriminalpolizei geführt - aber das erst seit zwei Jahren. Die Polizisten der Ermittlungsgruppe „Cold Cases, Teil 2“ haben sie dazu erklärt. Weil Mord nie verjährt. „Wir gehen heute davon aus, dass alle Frauen Verbrechen zum Opfer gefallen sind“, sagt Stephan Hartmann. Er leitet das Fachkommissariat 1 der Polizeiinspektion Cuxhaven, das auch die so genannten Rohheitsdelikte bearbeitet, also Straftaten wie Mord und Totschlag, aber auch nach Vermissten sucht.

Stephan Hartmann leitet das Fachkommissariat 1 der Polizeiinspektion Cuxhaven. Foto: Brockmann
Herr Hartmann, unser Thema heute ist der ungelöste Kriminalfall, der Cold Case. Wie viele solcher Fälle beschäftigen Sie eigentlich im Kreis Cuxhaven?
Wir haben sicher mehr als 20 Kriminalfälle, die nicht aufgeklärt werden konnten. Jeden haben wir danach bewertet, wo es neue Ansätze für eine Ermittlung geben könnte. Wir haben schließlich zwölf Fälle bearbeitet, der älteste datiert aus dem Jahr 1971.
Was ist damals passiert?
Das war der Mord zum Nachteil der Frau Schimmelpfennig. Mehr als 30 Jahre nach der Tat haben wir 2008 im Rahmen der Ermittlungsgruppe Altmordfälle neue Ermittlungsmethoden nutzen können, um Spuren auszuwerten.
Ich nehme an, Sie haben Spuren von damals auf eine mögliche Täter-DNA untersuchen lassen und durch eine Datenbank laufen lassen.
Das stimmt. Aber leider ergab sich daraus kein neuer Ansatz.
Die ersten Ermittlungen liegen häufig Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurück. Wie wollen Sie da noch Erfolg versprechende Ansätze finden?
Cold-Case-Management bedeutet in erster Linie, Akten zu studieren. Es arbeiten Kolleginnen und Kollegen an den Fällen, die zum Tatzeitpunkt vielleicht noch gar nicht geboren waren. Die untersuchen auch, ob Verdachtsthesen von einst heute noch haltbar wären. Wir suchen nach Sachbeweisen, gucken bei Asservaten, ob wir sie untersuchen lassen können nach neuesten wissenschaftlichen Methoden und kriminalwissenschaftlichen Möglichkeiten, um einen DNA-Beweis, Fasern oder Fingerabdrücke zu bekommen.
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In Niedersachsen haben Sie die Möglichkeit, Cold-Case-Einheiten bei der Kriminalpolizei einzurichten. Das ist nicht in jedem Bundesland selbstverständlich, weil es heißt, die Belastung mit aktuellen Fällen sei groß genug. Wie organisieren Sie die Arbeit?
Natürlich müssen wir sehen, was wir leisten können, zeitlich und personell. Wir haben uns in Cuxhaven entschlossen, die Fälle zu priorisieren, zu bewerten und bei einer Wahrscheinlichkeit auf Erfolg eine Ermittlungsgruppe einzurichten. Wir haben bisher zweimal solche Gruppen zusammengestellt, die jeweils etwa ein Jahr lang an ihren Fällen gearbeitet haben.
Arbeitet zurzeit eine Ermittlungsgruppe an ungeklärten Kapitalverbrechen?
Nein.
Anja Beggers, Angelika Kielmann, Anke Streckenbach, Andrea Martens, Christina Bohle, Jutta Schneefuß - was war Anlass, das Verschwinden der sechs jungen Frauen noch einmal zu untersuchen?
Die Fälle ähneln sich alle sehr, wie die Frauen verschwunden sind. Jede der Sechs hat kaum Spuren hinterlassen.
Gehen Sie inzwischen davon aus, dass alle sechs Fälle einen Zusammenhang haben?
Wir haben die Fälle analysieren lassen, um Zusammenhänge aufzuzeigen. Das ist nicht durchgehend gelungen. Die Fälle Angelika Kielmann und Anke Streckenbach können durchaus zusammengehören, aber es gibt für einige Fälle auch Anhaltspunkte, dass sie nicht zusammengehören, weil sie von den Abläufen nicht identisch sind.
Die Frauen wollten alle als Anhalterinnen fahren...
...Ja, uns interessierte daher schon die Frage, ob es sich insgesamt um eine Mordserie handelt oder welche Fälle zusammengehören könnten. Und natürlich wollten wir bislang nicht zugeordnete weibliche DNA-Profile aus den Ermittlungen um den so genannten Göhrde-Mörder Kurt-Werner Wichmann abgleichen.
Asservate dürfte es in allen sechs Fällen so gut wie keine geben...
...das stimmt. Es gibt nicht einmal einen klassischen Tatort, das ist unser Hauptproblem. Wir haben auch keinen Auffindeort von einem Leichnam, der ein Spurenträger sein oder etwas über eine Tat aussagen könnte. Dennoch war es richtig, alle Fälle erneut aufzurollen. Wir konnten von allen verschwundenen Frauen DNA-Muster anlegen und sie in Fahndungsdateien einpflegen. Das war vorher nicht passiert. In den 70er Jahren hatte man schlichtweg auch nicht die Möglichkeit, DNA-Vergleiche anzustellen. Auch bei späteren Ermittlungen wurden keine DNA-Spuren angelegt. Aus heutiger Sicht war das ein Fehler. Aber das haben wir jetzt nachgeholt. Alle Angehörigen haben uns dabei unterstützt.
Persönliche Gegenstände der vermissten Frauen dürften nach 40 oder noch mehr Jahren wohl kaum noch eine Hilfe gewesen sein?
Die Zahnbürste oder die Haarbürste, die haben wir natürlich nicht mehr gehabt. Wir haben von Geschwistern und Eltern Speichelproben bekommen. Die wissenschaftlichen Methoden sind längst so gut, daraus die DNA der Opfer reproduzieren zu können.
Heißt das, Sie haben die DNA der Opfer rekonstruieren können mit Hilfe lebender Verwandter?
Ja, das konnten wir. Sollten einmal Knochen gefunden werden, können wir jetzt wenigstens abgleichen, ob sie einer der Frauen zuzuordnen sind. Und wir haben die DNA auch mit den Asservaten abgleichen lassen, die im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Kurt-Werner Wichmann gesammelt wurden. Das versteht sich ja von selbst. Wichmann ist eine Person von besonderem Interesse, und es ist möglich, dass er im Zusammenhang steht mit Tötungsdelikten im gesamten Bundesgebiet.
Aber herausgekommen ist nichts...
...Wir haben keinen Sachbeweis, dass Kurt-Werner Wichmann für die Fälle hier verantwortlich sein könnte.
Zuletzt haben sich mehrere Frauen als Zeuginnen gemeldet, die meinen, Wichmann begegnet oder gar von ihm bedrängt worden zu sein. Sie liefern Hinweise, dass Kurt-Werner Wichmann im Landkreis Cuxhaven unterwegs war. Wie bewerten sie diese Aussagen?
Es hat sicherlich diese Vorfälle gegeben, die diese Zeuginnen schildern. Sie könnten auch mit Kurt-Werner Wichmann in Zusammengang stehen. Aber die zeitliche Anwesenheit belegt noch keinen Zusammenhang mit unseren Fällen. Wichmann hatte beruflich in der Region zu tun. Es ist interessant, dass sich Leute melden, aber in der kriminalistischen Beweisführung bringen uns diese Aussagen leider keinen Millimeter weiter. So leid es mir tut, das sagen zu müssen.
Sie haben keinen Sachbeweis, aber Sie führen die Vermisstenfälle als Mord. Warum?
Wir stellen jetzt anheim, dass es Morde waren. Kriminalistisch ist das zu begründen, nach der Beweislehre allerdings nicht. Wir gehen von Morden aus, damit die Verjährungsfrist nicht greift. Selbst ein Totschlag wäre nach 30 Jahren verjährt. Es gibt aber auch Körperverletzung mit Todesfolge, fahrlässige Tötung - das alles sind Tötungsdelikte, die längst verjährt wären. Als Aufhänger können wir nur den Mord nehmen, um die Akten zu erhalten.
Ist die Ermittlungsarbeit heute besser?
Natürlich sind die Möglichkeiten heute mit Sicherheit besser als in den 70er Jahren. Kriminaltechnisch, mit der Untersuchung und Auswertung von digitalen Geräten. Digitale Spuren gab es gar nicht, auch DNA-Untersuchungen nicht. Die Untersuchungsmethoden werden immer feiner. Uns reicht immer weniger Material, um immer bessere Ergebnisse zu erhalten. Die Polizeiarbeit ist für uns besser geworden.
Wie bewerten Sie die Chance, nach mehr als 30 Jahren die Frauen-Morde im Elbe-Weser-Dreieck doch noch aufzuklären?
Die Wahrscheinlichkeit, die Taten aufzuklären, muss ich leider als sehr minimal betrachten. Wir haben keinen Beweis für eine Tat, wir haben keinen Leichenfundort und nicht einmal eine Vorstellung, wo er einzukreisen sein könnte. Die Frauen können sonstwo sein, wo man einen Leichnam ablegen kann. Wir haben die Fälle genauestens aufbereitet und alle Möglichkeiten ausgenutzt, vielleicht über Zeitzeugen in eine Beweishypothese einzusteigen. Nach jetzigem Stand ist das nicht gelungen. Ich muss sagen: Die Ermittlungen sind abgeschlossen und glaube auch nicht, dass es uns über die Berichte der „Privatermittler“ gelingt, mit den Zeugen in eine Beweistheorie einzusteigen. Wir haben die Fälle zweifach überprüft und mit einer sehr, sehr hohen Wahrscheinlichkeit gibt es nichts, was wir noch untersuchen können. Es sei denn, es kommt jemand und bietet der Polizei einen Gegenstand an. Die Zeitzeugen sind 70 und älter und werden versterben.
„Tatort Nord“
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Als Polizist muss Sie das doch wurmen.
Ja, das liegt in der Natur der Sache. Jeder Ermittler, den das nicht wurmt, der sollte sich einen anderen Beruf suchen. Von der Motivation unserer Kollegen leben wir. Wir wollen Erfolg haben.
Und wenn es keinen gibt?
Dann muss man auch das akzeptieren können.
Sechs Vermisste
Sechs Frauen aus dem Elbe-Weser-Dreieck verschwinden zwischen 1977 und 1986 spurlos. Mehrfach hat sich die Kriminalpolizei der Fälle angenommen. Zurzeit recherchiert eine private Gruppe um den pensionierten Leiter des Hamburger Landeskriminalamtes, Reinhard Chedor, was passiert sein könnte. Sie halten es für möglich, dass der so genannte „Göhrde-Mörder“ Kurt-Werner Wichmann die Frauen getötet haben könnte.

Von sechs jungen Frauen fehlt jede Spur. Für die Polizei gibt es keine Hinweise darauf, dass der „Göhrde-Mörder“ etwas mit den Fällen zu tun haben könnte. Foto: Kitch
- 7. Oktober 1977: Anja Beggers (16) aus Midlum verschwindet im Oktober 1977 nach einem Besuch der Diskothek „Moustache“ in Bremerhaven.
- 7. Juni 1978: Angelika Kielmann (18) aus Cuxhaven verschwindet im Juni 1978 nach einem Kneipenbesuch.
- 16. Mai 1979: Anke Streckenbach (19) aus Cuxhaven wird seit Mai 1979 nach einem Kneipenbesuch vermisst.
- 30. November 1980: Die 19-jährige Andrea Martens taucht nach einem Besuch bei ihrem Freund in der US-Kaserne in Garlstedt nicht wieder auf.
- 13. August 1982: Die 15-jährige Christina Bohle aus Bremerhaven macht sich auf den Weg zur Disco „Kasba“ in Heerstedt. Zeugen sehen das Mädchen zuletzt um 2 Uhr. Danach fehlt jede Spur.
- 13. Juni 1986:Jutta Schneefuß (23) aus Loxstedt trampt nach Bremerhaven, wird nie wieder gesehen. Sie hinterlässt eine fünfjährige Tochter.
- Zu den vermeintlichen „Disco-Morden“ zählt auch der Fall von Irene W. Am 24. August 1986 verschwindet die 19-Jährige auf dem Weg zur Disco in Lintig. Sie wird am 3. September tot in einem Graben gefunden.