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Flüchtlingskrise 2015

THeimatlos: Luna fühlt sich nirgends sicher - auch nicht in Buxtehude

Luna Ahmad am Buxtehuder Fleth.

Luna Ahmad am Buxtehuder Fleth. Foto: Richter

Perfektes Deutsch, Abitur, dann Jura-Studium: Luna Ahmad könnte ein Paradebeispiel gelungener Integration sein. Doch sie fühlt sich nicht zugehörig.

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Von Anping Richter
Samstag, 04.10.2025, 18:50 Uhr

Buxtehude. Syrien, Ägypten, Türkei: Diese Stationen hatte Luna Ahmad schon hinter sich, als sie am 30. September 2015 als Elfjährige nach Deutschland kam. Zehn Jahre später lebt sie mit ihrer Familie in Buxtehude. Heimat würde sie diesen Ort aber nicht nennen - und auch keinen anderen auf der Welt.

Plötzlich stiegen Soldaten in den Schulbus

An den Tag, an dem ihr Leben als Flüchtling begann, kann sie sich noch gut erinnern. Es war ihr letzter Schultag in der syrischen Hauptstadt Damaskus, wo sie mit ihren Eltern und ihrem sechs Jahre älteren Bruder lebte.

Mit dem arabischen Frühling war die politische Situation in Syrien immer brenzliger geworden. Luna saß im Bus zur Schule, als er plötzlich angehalten wurde und Soldaten einstiegen: „Sie hielten uns Waffen ins Gesicht und fragten nach unseren Vor- und Nachnamen.“

Luna Ahmad kam an diesem Tag glimpflich davon. Doch als sie wieder zu Hause war und ihren Eltern davon berichtete, waren die entsetzt. Kinder wurden als Mittel benutzt, um Eltern in die Hand zu bekommen, die als Regimegegner verdächtigt wurden, erklärt Luna Ahmad. Erst kürzlich berichtete Lighthouse Reports, ein internationales journalistisches Investigativ-Netzwerk, über „Syria’s stolen Childen“. Das Assad-Regime hielt hunderte Kinder versteckt in geheimen Waisenhäusern fest, um die Eltern zu erpressen.

Luna Ahmads Eltern wollten das nicht riskieren und beschlossen, Syrien sofort zu verlassen. Die vierköpfige Familie ging nach Ägypten. „Ursprünglich wollten wir nur drei Monate bleiben, bis es besser wird“, erinnert sich Luna Ahmad. Daraus wurden zwei Jahre.

Diskriminiert in der Türkei

In Ägypten waren Flüchtlinge aus Syrien nicht gerade willkommen. Für Luna Ahmads Eltern - ihre Mutter war in Syrien Kunstlehrerin gewesen, ihr Vater Zahnarzt und Programmierer - war es schwierig, eine feste Arbeitstelle zu behalten. Auch in der Türkei blieb die Lage prekär - ebenso wie für die nunmehr zehnjährige Luna, die von türkischen Jungs geschlagen wurde, die etwas gegen Flüchtlinge hatten.

Einmal forderte ein Junge im Aufzug auch Geld von Luna. Als sie ihm nichts gab, wurde sie getreten. Dann hörte Familie Ahmad, dass es die Möglichkeit gab, nach Deutschland zu gehen. „Es war unsere beste Option, was Sicherheit angeht“, sagt Luna Ahmad.

Sicher fühlte sie sich aber auch in Deutschland nicht, wo die Familie irgendwann in Buxtehude landete. Die ersten deutschen Wörter, die sie lernte, waren Schimpfwörter, mit denen die Kinder in der Schule - sie besuchte die IGS Buxtehude - sie traktierten. Ständig hätten sie dabei auf ihr Kopftuch gezeigt. Luna Ahmad berichtet, dass sie als 13-Jährige von drei älteren, größeren Jungs umzingelt wurde. „Einer von ihnen hat mich zu Boden geschubst und getreten.“ Eine Lehrerin habe in der Nähe gestanden, aber weggesehen.

Rassismus-Erfahrungen in der Schule

Der Anfang war am Schwierigsten. Irgendwann habe sie gemerkt, dass es ein Muster gab. Dass es bestimmte Typen von Mensch waren, die so etwas taten und wo diese sich meistens aufhielten. Sie lernte, ihnen aus dem Weg zu gehen - und sie lernte Deutsch: „Als ich die Sprache konnte, konnte ich mich auch wehren.“

Luna Ahmad sagt, dass sie schon als Kind jemand war, der sich nichts gefallen lässt. Auch nicht von Lehrkräften, von denen sie mehrfach negative Kommentare hörte. „Nie wegen meinem Deutsch oder meiner Noten - immer wegen des Kopftuchs.“

Wegen ihrer guten Noten hatten die anderen Kinder irgendwann Respekt vor ihr. Doch eine Lehrerin habe sogar gesagt: „Würdest du kein Kopftuch tragen, hätte ich dir eine bessere Note gegeben.“ Die anderen Schüler warnten sie davor, sich bei der Schulleitung zu beschweren. Sie tat es trotzdem. Passiert sei aber nichts.

„Ich habe so viel Ungerechtigkeit erlebt, dass ich dachte: Ich muss Jura studieren“, sagt Luna Ahmad. Nach dem Abitur, das sie in Hamburg ablegte, bekam sie sofort einen Studienplatz. Als Schwerpunkt hatte sie sich Internationales Strafrecht ausgesucht. Mit Blick auf die Wirksamkeit angesichts der weltweiten Situation überzeugte sie das aber nicht.

Nach einem Semester Jura beschloss sie, etwas anderes zu machen: Medizin. Vielleicht als Studium, vielleicht erst einmal als Ausbildung. Ein Pflegepraktikum im Krankenhaus hat sie darin bestärkt.

Innerlich immer auf eine Flucht vorbereitet

„Das kann ich überall anwenden“, sagt Luna Ahmad. Sie habe erlebt, dass sich in jeder Minute alles ändern kann und sie plötzlich weg muss. Auch in Deutschland sei das realistisch: „Wenn man sich die aktuellen Umfragen ansieht, ist das doch klar.“

Inzwischen suche sie nicht mehr nach dem Gefühl von Sicherheit. „Ich habe diesen Wunsch, dass es irgendwo auf der Welt einen Ort gibt, wo ich mich sicher fühle. Aber ich erwarte nicht, dass er irgendwann erfüllt wird.“

Viele Syrer überlegen aktuell, in ihre Heimat zurück zu gehen, sagt Luna Ahmad. Auch sie denkt darüber nach. Ein Zugehörigkeitsgefühl habe sie aber auch dort nicht: „Das habe ich bei Menschen, nicht bei Orten.“

Sie habe viele gute Freunde und ein paar enge, Eingewanderte, aber auch einheimische Deutsche. Sie selbst ist syrische Palästinenserin und als staatenlos anerkannt. Die deutsche Staatsangehörigkeit hat sie jetzt beantragt: „Um reisen zu können - und um zu verhindern, dass bei den nächsten Wahlen die Falschen gewinnen.“

Manche sind Zahnärzte, Ingenieure oder Architekten

Ihr liegt daran, mehr darüber aufzuklären, was Eingewanderte in Deutschland geschafft haben. Solche wie die, die sie bei der SSUD, der Syrischen Studierenden Union in Deutschland, getroffen hat. Manche sind Zahnärzte, Ingenieure oder Architekten, andere erst vor drei Jahren gekommen, haben aber schon ihr Abitur abgelegt und ein Studium aufgenommen. „Das macht mich stolz.“

Auch Luna Ahmads Familie gehört zu denen, die es geschafft haben, sich eine Existenz aufzubauen. Ihr Vater verdient als selbstständiger IT-Fachmann und Programmierer gutes Geld, ihre Mutter arbeitet als Sozialpädagogische Assistentin in einer Kita. Eine neue Heimat haben sie aber nicht gefunden. „Meine Eltern hatten große Erwartungen an Deutschland, als sie kamen. Ich nicht. Deshalb werde ich auch nicht enttäuscht“, sagt Luna Ahmad.

TAGEBLATT-Serie

„Wir schaffen das“: Der Satz von Angela Merkel vom 31. August 2015 ist in Deutschland zum Synonym der großen Flüchtlingskrise geworden. Zehn Jahre danach nimmt das TAGEBLATT dies zum Anlass, für eine Serie, die in loser Folge erscheint. In Gesprächen mit Zeitzeugen stellen wir die Frage: Was haben wir heute geschafft? Und was ist noch zu tun?

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