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24-Stunden-Reportage

TIm Schutz des Lebensgartens: Wo Demenzkranke Halt und Rhythmus finden

Spazieren im Lebensgarten, mal gemeinsam, mal allein: Im Pflegeheim Bergfried in Guderhandviertel hilft das den an Demenz erkrankten Bewohnern.

Spazieren im Lebensgarten, mal gemeinsam, mal allein: Im Pflegeheim Bergfried in Guderhandviertel hilft das den an Demenz erkrankten Bewohnern. Foto: Klempow

Gehen, einfach gehen. Im neuen Lebensgarten im Haus Bergfried dürfen Demenzkranke das. Tag und Nacht. So lange sie müssen. Bis die Unruhe nachlässt, das Ziel verblasst.

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Von Grit Klempow
Dienstag, 09.07.2024, 17:50 Uhr

Guderhandviertel. Gartenmöbel in einem Fachwerk-Pavillon. Die Menschen unter dem Reetdach sitzen zusammen, als würden sie sich ewig kennen. Es sind erst einige Wochen.

Aber Zeit, gestern und heute, ist für sie eine flüchtige Einteilung. Die betagten Herrschaften sind alle an Demenz erkrankt. Anzumerken ist es ihnen gerade jetzt kaum.

Jeden Tag neue Beschäftigungsideen

Bärbel Hoffmann hat Obst mitgebracht, Weintrauben und Erdbeeren und Bananen. Wer am Tisch sitzt, schnippelt mit. Bärbel Hoffmann ist als Allrounderin im Lebensgarten im Einsatz. Sie macht alles, von Hauswirtschaft bis Pflege.

Bärbel Hoffmann überlegt sich für jeden Tag eine neue gemeinsame Aktivität.

Bärbel Hoffmann überlegt sich für jeden Tag eine neue gemeinsame Aktivität. Foto: Klempow


Jeden Tag bringen sie und ihre Kollegen eine neue Idee mit, was die neun Bewohner zusammen machen können. Mitmachen muss niemand in diesem ganz besonderen Lebensbereich im Haus Bergfried in Guderhandviertel, der auf die besondere Lebenswirklichkeit der Bewohner eingeht.

Der Lebensgarten ist ein Altes Land im Mini-Format

Wer hier einzieht, in eines der elf Zimmer mit den unterschiedlichen Farben, der hat durch die Demenz den Halt verloren, der ist mit seiner Rastlosigkeit, bei aller Zuwendung, in der Familie nicht mehr sicher aufgehoben.


Hinlauftendenz sagen die Fachleute. Wer dement ist, läuft nicht weg, sondern geht wohin. Er hat ein Ziel, das nur er kennt. Die Demenz nimmt Orientierung, kappt das Ankertau in Zeit und Raum. Wer hier lebt, der läuft, sucht. Immer mal wieder. Tagsüber, genauso oft nachts. Im Lebensgarten ist das möglich.

Wie das Alte Land im Kleinformat: Der Lebensgarten vermittelt ein vertrautes Lebensgefühl. Auch die Terrassen der Bewohner sind farblich gekennzeichnet, das erleichtert die Orientierung.

Wie das Alte Land im Kleinformat: Der Lebensgarten vermittelt ein vertrautes Lebensgefühl. Auch die Terrassen der Bewohner sind farblich gekennzeichnet, das erleichtert die Orientierung. Foto: Klempow

Der umzäunte Garten ist ein geschützter und gesicherter Bereich. Und ein Altes Land im Mini-Format: der reetgedeckte Pavillon, der grüne Trecker-Oldtimer, die frisch gepflanzten Obstbäume, der Wegweiser mit den vertrauten Orten: Hollern, Steinkirchen, Jork.

Zahl der Demenzkranken steigt

Jeder ist so viel für sich wie er möchte und hat so viel Gesellschaft und Zuwendung wie er braucht. Das klingt nach paradiesischen Zuständen, gemessen an den derzeitigen Herausforderungen in der Pflege. Aber es könnte auch eine der Antworten auf die Fragen der Zukunft sein.

Das Projekt war eine bewusste Entscheidung. „Wir werden immer mehr an Demenz erkrankte Menschen haben“, sagt Beke Brandt, die für die Altenpflege des Landkreises als Trägerin des Seniorenheims das Projekt entwickelt und vorangetrieben hat.

Das lässt sich auch im Pflegebericht des Landkreises lesen: Infolge des demografischen Wandels wird die Zahl der Menschen mit einer demenziellen Erkrankung im Landkreis – allein in der Altersgruppe der über 65-Jährigen – bis 2050 auf etwa 6600 Menschen steigen. Daran müssen sich die Akteure in der Pflege anpassen. Denn wer demenziell erkrankt ist, kann sich selbst nicht mehr gut anpassen.

„Der Tagesablauf ist hier ein bisschen anders“

Bärbel Hoffmann

Im Lebensgarten, der erst im April eingeweiht wurde, wird genau das umgesetzt. Zwischen den älteren Herrschaften scheint es ein still geteiltes Wissen darüber zu geben, dass sie anders als andere Senioren sind. Dass sie mobil sind, und dennoch der Halt fehlt.

Bärbel Hoffmann spricht das an: „Jeder vergisst immer mal was oder ist aus Versehen im falschen Zimmer, oder? Das ist doch nicht schlimm.“ „Nein, überhaupt nicht!“ - die Dame mit dem schmalen Gesicht nickt.

Ihr Teint hat einen sonnengebräunten Schimmer. Aufmerksam nimmt sie am Gespräch teil, ihre Augen blitzen, ihre Antworten sind präzise. „Der Tagesablauf ist hier ein bisschen anders“, erzählt Bärbel Hoffmann. Die Struktur ist wichtig, an den Mahlzeiten kann jeder erkennen, wie weit der Tag ist.

Die Küche mit dem Esstisch heißt auf der Lebensgarten-Station Diele. In der Wand verborgen ist eine Tür, zu der nur die Mitarbeiter einen Schlüssel haben.

Die Küche mit dem Esstisch heißt auf der Lebensgarten-Station Diele. In der Wand verborgen ist eine Tür, zu der nur die Mitarbeiter einen Schlüssel haben. Foto: Klempow

Aber wer etwas länger schlafen muss, der tut das auch. Aufstehen? „Vor acht auf keinen Fall“, sagt die Aufmerksame. So aufgeweckt sie an der Kaffeetafel auch wirkt, das Bild ist trügerisch.


Sie gehört zu denen, die es nachts oft hinauszieht, aus dem Bett, aus dem Zimmer, die durch ihre Terrassentür treten, hinaus in den geschützten Garten. Die laufen, Runde um Runde. Die bei gutem Wetter manchmal auf der Bank oder der Holzliege zur Ruhe kommen, vielleicht sogar einnicken.

Die Nachtwache kommt und deckt sie zu, wenn das Wetter es zulässt. Nach drei, vier Wochen im Lebensgarten wird es mit dem Tag-Nacht-Rhythmus meist ein bisschen besser.

Warum der Kühlschrank immer gut gefüllt ist

„Ich hätte ja auch Sahne mit euch geschlagen, aber es ist einfach zu heiß heute“, sagt Bärbel Hoffmann und verteilt großzügige Portionen Vanilleeis mit Obstsalat. Zusätzliche Kalorien, die die Bewohner brauchen, wenn sie sich getrieben von ihren Gefühlen auf den Weg machen. Deshalb ist der Kühlschrank in der gemeinsamen Wohnküche, der Diele, immer gut gefüllt und jederzeit zugänglich.

Auch das Duzen gehört zum Konzept, innerhalb der Gruppe und gegenseitig mit den Pflegekräften, es stärkt den Zusammenhalt miteinander und nimmt Barrieren.

Lisa-Paulina Helk ist als Pflegefachkraft im Lebensgarten-Team. Ihr Hund ist ein gern gesehener Besucher. Helk lässt ihn zum Therapie-Hund ausbilden.

Lisa-Paulina Helk ist als Pflegefachkraft im Lebensgarten-Team. Ihr Hund ist ein gern gesehener Besucher. Helk lässt ihn zum Therapie-Hund ausbilden. Foto: Klempow


Um die Ecke kommt Lisa-Pauline Helk. Sie ist die Pflegefachkraft in dieser Schicht. Alle nennen sie Lisa. Sie ist im Haus auch fürs Qualitätsmanagement zuständig, teilt ihr Wissen über Demenz in Fortbildungen. „Aber was hilft es, wenn ich die Krankheit kenne, aber die Bewohner nicht?“ Mit einem Stundenanteil gehört sie zum Lebensgarten-Team.

Auch ein Hund gehört zum Team

Sie kommt nicht allein. Die Freude ist groß, dass Babsi an ihrer Seite ist. Der sechs Monate alte Landser-Welpe soll später ein ausgebildeter Therapiehund werden. Ihr sanftes Gemüt macht den Bewohnern Freude. Manche hatten selbst Hunde. „Schäferhunde“, sagt eine, Labrador oder Rottweiler waren Begleiter der anderen. Jede Erinnerung zählt, die Biografie eines jeden Einzelnen hat Gewicht.

Babsi zu streicheln oder ihr ein Leckerli zu geben, macht den Bewohnern Freude.

Babsi zu streicheln oder ihr ein Leckerli zu geben, macht den Bewohnern Freude. Foto: Klempow


Die eine hatte einen großen Garten und kümmert sich nun um die Tomatenpflanzen im Innenhof. Der andere hat Zeit seines Lebens alles repariert und widmet sich ab und an dem kleinen Trecker. Eine andere hatte ihre Biografie niedergeschrieben. Abends lesen sie daraus vor und finden Anknüpfungspunkte, um Erinnerungen auszutauschen.

Wird die Erinnerung aufrechterhalten, kann der Verlust der Identität hinausgezögert werden. Das Interesse an ihrem Leben, an ihren Fähigkeiten bedeutet für die Bewohner Wertschätzung. Sie sind wer, immer noch.

Fürsorge innerhalb der Gruppe

„Ich möchte eine Tablette“, sagt eine Frau. Für die Ausgabe der Medikamente ist Lisa zuständig. Einer hat sein Eis auf dem Gartentisch abgestellt. „Du kannst es ruhig wieder nehmen und essen, der Löffel ist an der Seite“, sagt Bärbel. Der schlanke, hochgewachsene alte Mann greift zu, die Aufmerksame schiebt die Schale näher zu ihm. Fürsorge innerhalb der Gruppe. Selbstverständlich ist das nicht.

Es scheint weniger Aggressivität zu geben als es bei Demenzerkrankten der Fall sein kann. Manchmal hören sie zusammen Musik, vielleicht wird auch getanzt. „Die Gruppe ist einfach toll“, sagt Projektmanagerin Beke Brandt. Gleichzeitig ist das Projekt auch für andere Stationen eine Entlastung, Erkrankte mit ihrem Drang zu gehen nicht ständig im Auge behalten zu müssen.

„Wir sind hier alle gleich und haben die gleichen Sorgen“, sagt Lisa über die Gruppe. Die Bewohner nicken. „Hab ich meine Tablette eigentlich bekommen?“ „Ja“, sagt Lisa. „Na ja, dann ist ja gut. Ich geh vielleicht noch ‚ne Runde, wenn es kühler ist.“ „Wir sind gleich gestrickt, wir beide“, sagt eine andere. Vielleicht gehen sie später gemeinsam.

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