TKopfverletzungen im Sport: Die unterschätzte Gefahr

„Ein Energiebündel“: Teresa von Prittwitz konnte in dieser Saison noch kein Spiel bestreiten. Foto: Jan Iso Jürgens (Archiv)
Die BSV-Handballerin Teresa von Prittwitz machte sich nach ihrer zweiten Gehirnerschütterung große Sorgen. Warum die Kopfverletzung so gefährlich ist.
Buxtehude. Als sich der BSV kurz vor dem Bundesliga-Start beim Sponsorenabend in Beckdorf präsentiert, spricht Trainer Dirk Leun einen ungewöhnlichen Satz ins Mikrofon: „Wir dürfen uns nichts vormachen: Handball ist eine Kampfsportart. Das haben wir gerade wieder gesehen.“ Wie bitte?
Worauf Leun anspielt: Bei einem Vorbereitungsspiel in Blomberg wollte BSV-Handballerin Teresa von Prittwitz ein Stürmerfoul provozieren, „so wie ich es schon oft gemacht habe“, sagt sie. Also lockte von Prittwitz die Angreiferin in eine Lücke und stellte sich ihr im letzten Moment in den Weg. Die beiden prallten zusammen. „Ich hatte keine gute Körperspannung und bin mit dem Kopf auf den Boden geknallt“, sagt die 23-Jährige.
„Ein heftiger Crash“, sagt ihr Trainer.
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Dunkelziffer dreimal so hoch
Teresa von Prittwitz fehlt einige Wochen später beim Sponsorenabend. „Sie braucht jetzt absolute Schonung“, sagt Leun. Die Linksaußen hat eine Gehirnerschütterung und ein Schleudertrauma erlitten, so wie schon drei Monate zuvor, als sie in der Bundesliga mit einer Teamkollegin zusammenstieß und fast zwei Monate ausfiel.
Sportlerinnen und Sportler in Kontaktsportarten sind diesem Risiko ständig ausgesetzt. Nach Angaben der Hannelore-Kohl-Stiftung werden in Deutschland jährlich rund 44.000 Gehirnerschütterungen im Sport dokumentiert. Experten gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffer dreimal so hoch ist.

Teresa von Prittwitz erlitt ihre erste Gehirnerschütterung im Mai. Foto: Jan Iso Jürgens (Archiv)
Gehirn reagiert mit Schutzreaktion
Das Tückische: Sportlerinnen und Sportler, die sich eine Platzwunde oder Nasenbluten zuziehen, wissen relativ leicht, woran sie sind. Anders sieht es bei inneren Verletzungen wie einer Gehirnerschütterung aus.
Das Gehirn, das normalerweise in einer Flüssigkeit schwimmt, stoße bei einem Zusammenprall gegen den Schädelknochen, erklärt der Stader Sportmediziner Dr. Stephan Brune. „Das führt zu Irritationen im Gehirn.“
Das Gehirn reagiert mit einer Schutzreaktion und setzt verschiedene Stresshormone frei: Adrenalin hilft dem Körper, indem es Herzfrequenz und Blutdruck erhöht; Cortisol reguliert den Energiehaushalt und reduziert Entzündungen.
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„Sie wirken aber auch euphorisierend“, sagt Brune. Viele Sportlerinnen und Sportler, die eigentlich eine Gehirnerschütterung haben, wollen daher weiterspielen. „Dabei sind sie gar nicht in der Lage, das selbst zu beurteilen. Sie gehören sofort ausgewechselt“, nimmt der Mediziner Trainer und Teamärzte in die Verantwortung.
In Blomberg hingegen gab es keine zwei Meinungen: Von Prittwitz konnte nach dem Zusammenprall nicht mehr weiterspielen.
Starke Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit
Danach klagte sie über die typischen Symptome: starke Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit. Dazu Sehstörungen und Konzentrationsprobleme. Alltägliche Dinge wie Einkaufen oder die Arbeit am Laptop für das Studium seien deshalb sehr anstrengend gewesen, sagt sie.
„Ich habe viel im Bett gelegen und geschlafen.“ Durch MRT-Untersuchungen konnten die Ärzte eine Schädigung des Gehirns ausschließen.

Die gebürtige Nürnbergerin spielt seit 2016 beim BSV. Foto: Jan Iso Jürgens (Archiv)
Leun: „Ich mache ihr keinen Vorwurf“
Außerdem gab Leun ihr einen Stufenplan der Berufsgenossenschaft an die Hand, der zuallererst Ruhe versieht und Hinweise gibt, wann mit der nächsten Stufe - etwa Spaziergänge oder Training ohne Körperkontakt - begonnen werden kann. „Wenn so etwas zweimal in kurzer Zeit passiert, haben wir eine große Verantwortung“, sagt Leun.
„Man weiß, dass damit nicht zu spaßen ist“, sagt von Prittwitz.

BSV-Trainer Dirk Leun. Foto: Jan Iso Jürgens
Dennoch bleibt die Frage, ob von Prittwitz nach ihrer ersten Gehirnerschütterung zu früh zurückgekehrt ist. „Vielleicht war es ein bisschen zu früh“, sagt Leun. Wegen der durch das Schleudertrauma ausgelösten Probleme an der Halswirbelsäule hätte sie durchaus länger pausieren können.
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„Aber ich mache ihr keinen Vorwurf. Für sie war es eine erste Erfahrung“, sagt Leun über das „Energiebündel“ von Prittwitz.
Bleibende Schäden zu befürchten
In der Regel heilt eine Gehirnerschütterung innerhalb weniger Tage von selbst und ohne Folgen aus. „Wenn man nicht pausiert, kann eine Gehirnerschütterung aber dauerhafte Schäden haben“, sagt Brune. Die Symptome können Monate oder Jahre anhalten. Auch depressive Verstimmungen, Leistungsabfall und posttraumatischer Stress sind wahrscheinlicher.
Bei wiederholten Gehirnerschütterungen können sogar langfristig ernsthafte Folgen auftreten, darunter die schwere degenerative Hirnerkrankung CTE (chronisch-traumatische Enzephalopathie), die zu Gedächtnisverlust, Depressionen und Wutausbrüchen führen kann.
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Ex-Torfrau kämpft mit schweren Folgen
Einen dramatischen Fall schilderte vor einigen Jahren die frühere Bensheimer Torhüterin Pauline Radke. Aufgrund wiederholter Gehirnerschütterungen durch Kopftreffer hatte sie lange Zeit mit Kopfschmerzen, Müdigkeit, Panikattacken und Konzentrationsstörungen zu kämpfen, die ihr Leben extrem einschränkten.
Torhüterinnen scheinen besonders gefährdet zu sein. Das zeigen auch andere Beispiele: So kann die Bensheimerin Helen van Beurden wegen mehrerer Kopftreffer derzeit nicht das Tor des Bundesligisten hüten. Die französische Weltklasse-Torhüterin Cléopâtre Darleux musste aus dem gleichen Grund über ein Jahr pausieren. Für den BSV sind das Warnsignale.

BSV-Torhüterin Laura Kuske kassierte zuletzt drei Kopftreffer. Foto: Jan Iso Jürgens
Deshalb wird auch Torhüterin Laura Kuske am Samstag in Neckarsulm nicht spielen. Sie hatte laut Leun in den ersten beiden Bundesligaspielen und im Training drei Kopftreffer kassiert und über Kopfschmerzen geklagt. „Wir wollen kein Risiko eingehen“, so Leun. Ein MRT habe keinen Hinweis auf eine Schädigung des Gehirns ergeben.
Dass der Kopftreffer im Heimspiel gegen Metzingen jedoch nicht geahndet wurde, stößt allerdings auf Unverständnis. „Man muss die Torhüterin doch schützen“, sagt Leun.
Untersuchung positiv für von Prittwitz
In der vergangenen Woche wurde Teresa von Prittwitz schließlich in einer Hamburger Klinik untersucht, die Sportlerinnen und Sportler mit Kopfverletzungen betreut. MRT, EEG, von Prittwitz musste Rechenaufgaben lösen, sich bestimmte Dinge merken, Gleichgewichts- und Reaktionstests absolvieren.
Das Ergebnis stimmt sie positiv: Langzeitschäden seien nicht zu befürchten, sagt von Prittwitz, der damit ihre Sorgen genommen wurden. Auch die Kopfschmerzen lassen nach.
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Beim Auswärtsspiel am Samstag (18 Uhr/live bei Dyn und sportdeutschland.tv) gegen Neckarsulm wird von Prittwitz noch nicht dabei sein. Sie peilt aber das Pokalspiel gegen Ludwigsburg am 2. Oktober an und wolle dann wieder 100 Prozent geben, sagt sie. Von Prittwitz ist voller Energie.